Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Juni 12 -15.) 115
äußert, daß kein Bedürfnis vorläge, die Allgemeinheit mit neuen Steuern
zu belasten, wenn ich dazu nehme die indirekte Leugnung bes Bedürfnisses,
wie sie in der Abneigung des preußischen Landtages liegt, die Frage auch
nur zu beraten, wenn ich das alles zusammennehme, so kann ich zweifelhaft
werden, ob das Bedürfnis, was Seine Majestät der König und seine Mi-
nister mit ihm in Preußen sehr lebhaft empfinden, im ganzen Lande em-
pfunden wird, ob es wirklich vorhanden ist. — Wir stehen in Preußen vor
neuen Wahlen, und ich rechne darauf, daß diese Wahlen uns darüber Aus-
kunft und Entscheidung bringen: fühlt das preußische Volk wirklich einen
Steuerdruck dessen Erleichterung es wünscht, oder nicht? Der bisherige
Landtag hat uns eine Erklärung darüber versagt. Wir erwarten, daß bei
den bevorstehenden Wahlen in Preußen die Frage ein Hauptkriterium bilde:
soll die Klassensteuer mit ihren Millionen Exekutionen beibehalten werden,
mit ihrer Verfolgung der Verzogenen, das ganze veraltete Institut? Soll
die hohe Belastung der Gemeinden beibehalten werden, ohne ihnen zu helfen?
Soll das Schulgeld beibehalten werden? Das werden Fragen sein, über die
der Ausfall der nächsten preußischen Wahlen der Regierung einen Finger
zeig und der Landtag eine durchschlagende Antwort geben wird. Ist der
nächste preußische Landtag gegen die Leiden seiner minderbegüterten Mit-
bürger ebenso gleichgiltig wie der jetzige, ja, dann, meine Herren, liegt viel-
leicht keine Not vor, sonst wäre er nicht gewählt worden, dann wozu der
Lärm: was sollen wir uns dann quälen mit der Sisyphusarbeit, eine weitere
Erleichterung und Reform zu schaffen? Beneficia non obtrudantur! Ich kann
das aushalten, sobald ich ein reines Gewissen habe, und mein Gewissen zu
befreien, ist der Grund meines jederzeitigen Auftretens. Wollte der nächste
Landtag wiederum, wie der bisherige, sich einer eingehenden Diskussion der
Bedürfnis- und Verwendungsfrage, einer Beschlußnahme darüber, welche
Verwendung er haben will, versagen, so könnte ich Seiner Majestät nur
raten, so oft an die Wähler zu appellieren, bis darüber die notwendige
Entscheidung erreicht ist, und ich werde kein Bedenken tragen, Sr. Majestät
zu raten, den preußischen Landtag, sobald er nur gewählt ist, zu berufen,
ihm diese Frage zu stellen und ohne weiteres von neuem an die Wähler zu
appellieren, wenn uns wiederum in der bisherigen Weise ausgewichen wird.
Der Landtag kann beschließen, was er will, aber er darf sich die Beratung
der Not seiner Mitbürger nicht versagen; wenn er das tut, so verdient er
nicht den Namen „Volksvertretung“; die Volksvertretung liegt dann mehr
bei dem Monarchen, der ein Herz hat für das Volk und dessen Leiden.
Den Vorwurf des Sozializmus möchte ich noch erwähnen. Sozialistisch
sind viele Maßregeln, die wir getroffen haben, die wir zum großen Heile
des Landes getroffen haben, und etwas mehr Sozialismus wird sich der
Staat bei unserem Reiche überhaupt angewöhnen müssen. Wir werden den
Bedürfnissen auf dem Gebiete des Sozialismus reformierend entgegenkommen
müssen, wenn wir dieselbe Weisheit beobachten wollen, die in Preußen die
Stein- und Hardenbergsche Gesetzgebung bezüglich der Emanzipation der
Bauern beobachtet hat. Auch das war Sozialismus, dem Einen das Gut
zu nehmen, dem Anderen zu geben, ein sehr viel stärkerer Sozialismus als
ein Monopol. Ich freue mich, daß es so gekommen ist, daß man diesen
Sozialismus geübt hat; wir haben dadurch einen sehr wohlhabenden, freien
Bauernstand erhalten, und ich hoffe, wir werden mit der Zeit ähnliches
für die Arbeiter erreichen, — ob ich es erlebe, kann ich bei dem allgemeinen,
prinzipiellen Widerstande, der mir auf allen Seilen entgegentritt und mich
ermüdet, nicht wissen. — Aber Sie werden genötigt sein, dem Staate ein
paar Tropfen sozialen Öls im Rezepte beizusetzen, wie viel weiß ich
nicht, aber es wäre meines Erachtens eine große Vernachlässigung der Pflichten
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