Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreiundzwanzigster Jahrgang. 1882. (23)

Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Juni 12 -15.) 115 
äußert, daß kein Bedürfnis vorläge, die Allgemeinheit mit neuen Steuern 
zu belasten, wenn ich dazu nehme die indirekte Leugnung bes Bedürfnisses, 
wie sie in der Abneigung des preußischen Landtages liegt, die Frage auch 
nur zu beraten, wenn ich das alles zusammennehme, so kann ich zweifelhaft 
werden, ob das Bedürfnis, was Seine Majestät der König und seine Mi- 
nister mit ihm in Preußen sehr lebhaft empfinden, im ganzen Lande em- 
pfunden wird, ob es wirklich vorhanden ist. — Wir stehen in Preußen vor 
neuen Wahlen, und ich rechne darauf, daß diese Wahlen uns darüber Aus- 
kunft und Entscheidung bringen: fühlt das preußische Volk wirklich einen 
Steuerdruck dessen Erleichterung es wünscht, oder nicht? Der bisherige 
Landtag hat uns eine Erklärung darüber versagt. Wir erwarten, daß bei 
den bevorstehenden Wahlen in Preußen die Frage ein Hauptkriterium bilde: 
soll die Klassensteuer mit ihren Millionen Exekutionen beibehalten werden, 
mit ihrer Verfolgung der Verzogenen, das ganze veraltete Institut? Soll 
die hohe Belastung der Gemeinden beibehalten werden, ohne ihnen zu helfen? 
Soll das Schulgeld beibehalten werden? Das werden Fragen sein, über die 
der Ausfall der nächsten preußischen Wahlen der Regierung einen Finger 
zeig und der Landtag eine durchschlagende Antwort geben wird. Ist der 
nächste preußische Landtag gegen die Leiden seiner minderbegüterten Mit- 
bürger ebenso gleichgiltig wie der jetzige, ja, dann, meine Herren, liegt viel- 
leicht keine Not vor, sonst wäre er nicht gewählt worden, dann wozu der 
Lärm: was sollen wir uns dann quälen mit der Sisyphusarbeit, eine weitere 
Erleichterung und Reform zu schaffen? Beneficia non obtrudantur! Ich kann 
das aushalten, sobald ich ein reines Gewissen habe, und mein Gewissen zu 
befreien, ist der Grund meines jederzeitigen Auftretens. Wollte der nächste 
Landtag wiederum, wie der bisherige, sich einer eingehenden Diskussion der 
Bedürfnis- und Verwendungsfrage, einer Beschlußnahme darüber, welche 
Verwendung er haben will, versagen, so könnte ich Seiner Majestät nur 
raten, so oft an die Wähler zu appellieren, bis darüber die notwendige 
Entscheidung erreicht ist, und ich werde kein Bedenken tragen, Sr. Majestät 
zu raten, den preußischen Landtag, sobald er nur gewählt ist, zu berufen, 
ihm diese Frage zu stellen und ohne weiteres von neuem an die Wähler zu 
appellieren, wenn uns wiederum in der bisherigen Weise ausgewichen wird. 
Der Landtag kann beschließen, was er will, aber er darf sich die Beratung 
der Not seiner Mitbürger nicht versagen; wenn er das tut, so verdient er 
nicht den Namen „Volksvertretung“; die Volksvertretung liegt dann mehr 
bei dem Monarchen, der ein Herz hat für das Volk und dessen Leiden. 
Den Vorwurf des Sozializmus möchte ich noch erwähnen. Sozialistisch 
sind viele Maßregeln, die wir getroffen haben, die wir zum großen Heile 
des Landes getroffen haben, und etwas mehr Sozialismus wird sich der 
Staat bei unserem Reiche überhaupt angewöhnen müssen. Wir werden den 
Bedürfnissen auf dem Gebiete des Sozialismus reformierend entgegenkommen 
müssen, wenn wir dieselbe Weisheit beobachten wollen, die in Preußen die 
Stein- und Hardenbergsche Gesetzgebung bezüglich der Emanzipation der 
Bauern beobachtet hat. Auch das war Sozialismus, dem Einen das Gut 
zu nehmen, dem Anderen zu geben, ein sehr viel stärkerer Sozialismus als 
ein Monopol. Ich freue mich, daß es so gekommen ist, daß man diesen 
Sozialismus geübt hat; wir haben dadurch einen sehr wohlhabenden, freien 
Bauernstand erhalten, und ich hoffe, wir werden mit der Zeit ähnliches 
für die Arbeiter erreichen, — ob ich es erlebe, kann ich bei dem allgemeinen, 
prinzipiellen Widerstande, der mir auf allen Seilen entgegentritt und mich 
ermüdet, nicht wissen. — Aber Sie werden genötigt sein, dem Staate ein 
paar Tropfen sozialen Öls im Rezepte beizusetzen, wie viel weiß ich 
nicht, aber es wäre meines Erachtens eine große Vernachlässigung der Pflichten 
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