120 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Juni 12—15)
und das ist der alleinige Grund, warum Sie mich überhaupt hier noch
sehen, das einzige Fleisch und Blut meines alten Herrn, dem ich geschworen
habe, dem ich anhänge und den ich liebe. Sonst im übrigen würde ich die
Geschäfte gern einem Anderen übergeben. Außer diesem Grunde des Pflicht-
gefühls ist es ein anderes, sehr natürliches, daß ich mit einer gewissen Sorge
der Zukunft, den Einrichtungen entgegensetze, deren Herstellung ich 30 Jahre
meines Lebens und meine besten Kräfte gewidmet habe. Daß es mich mit
Besorgnis erfüllt, wenn sie rückgängig werden, sich abnützen, sich nicht be-
währen sollten, das ist ein natürliches Interesse, über das ich mich aber
auch bescheiden muß. Ich kann mich mitunter in schlaflosen Nächten des
Gedankens nicht erwehren, daß vielleicht uusere Söhne nochmals wieder um
den mir wohlbekannten runden Tisch des Frankfurter Bundesrats sitzen
könnten. Die Art, wie die Geschäfte gehen, schließt die Möglichkeit nicht
aus, wenn die Achtung und das Ansehen, dessen wir uns heut zu Tage im
Auslande erfreuen, erst mal einen Stoß erlitten haben sollte. Wir haben
eine große Autorität gewonnen, sie ist aber leicht zu erschüttern. Ich habe,
als unsere Verfassung geschaffen wurde, unter dem Eindruck gehandelt: die
Gefahr für den nationalen Gedanken, für unsere Einheit liege in den Dy-
nastien, der Anker der Rettung und der Kitt für unsere Einheit liege im
Reichstage, deshalb müsse man dem Reichstage möglichst viele Rechte geben
und ihn möglichst stark hinstellen. Weil ich damals unter dem Eindruck
der alten bundestäglichen Verhältnisse, die ich noch nicht überwunden hatte,
ganz von der Besorgnis beherrscht war, der nationalen Einheit und damit
der Unabhängigkeit von Fremden einen möglichst prägnanten, scharfen, bin-
denden Ausdruck zu geben, deshalb habe ich damals zugestimmt, den Reichs-
tag in die Möglichkeit zu setzen, daß er seinerseits das Reich nicht nur för-
dern, sondern allerdings auch wesentlich schädigen kann, wenn er die Auf-
gaben, die von der Vorsetzung in die Ökonomie des deutschen Reichs ein-
gefügt sind, nicht vollständig erfüllt. . Nun, meine Herren, ich gebe diesen
Befürchtungen für die Zukunft keine Audienz, aber mein Vertrauen darüber,
daß unsere Einheit auch in Zukunft gesichert sei, beruht heutzutage auf den
Dynastien. Die deutschen sind heutzutage national gesinnt, sie haben das
Bedürfnis, Rücken an Rücken zusammen zu stehen gegenüber allen auswär-
tigen Gefahren, aber auch ihre monarchischen Rechte, soweit wie sie ver-
fassungsmäßig bestehen, nicht untergraben zu lassen. Wir haben feste Ver-
bindung mit den außerhalb des deutschen Reiches belegenen großen Mo-
narchien, welche gleiche Interessen mit uns vertreten, erhaltende, friedliebende.
Ich glaube auch, daß diese Verbindungen dauernde sein werden, und daß
die Verhältnisse, wie sie einst erstrebt wurden, ohne vielleicht einen festen
Glauben an ihre Verwirklichung zu haben, im Jahre 1848 und später, sich
befestigen und immer schärfer ausprägen und immer deutlicher gestalten
werden, und daß in der Mitte von Europa eine große, feste, erhaltende Ge-
walt sein wird, und ich habe zu den deutschen Dynastien das Zutrauen,
daß sie den nationalen Gedanken stets hochhalten werden, daß sie ihrerseits
die politische und militärische Einheit des Reiches unverbrüchlich bewahren
und jede Versuchung Fremder widerstehen werden und uns dann vielleicht
auch über die Gefahren und Krisen hinweghelfen werden, denen das Reich
ausgesetzt sein könnte, wenn seine parlamentarische Gestaltung und wenn die
Tätigkeit hier im Reichstage vielleicht vorübergehend an dem Marasmus
der Fraktions- krankheit leiden sollte — in einer bedenklichen Weise leiden
sollte. Dann, meine Herren, habe ich das Vertrauen zu der Zukunft unserer
Einigkeit. Diese Einigkeit ist die Vorbedingung unserer nationalen Un-
abhängigkeit. Deshalb hüten Sie sich vor der Zerfahrenheit, der unser deut-
sches Parteileben bei der unglücklichen Zanksucht der Deutschen und der