Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreiundzwanzigster Jahrgang. 1882. (23)

132 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Juni 12—15.) 
Parteiregierung zu bilden? Ich kenne eine solche Partei nicht. Von meiner 
Partei lehne ich es entschieden ab. Ich gehe sogar weiter, ich sage: so lange 
unsere Zustände sich so fort entwickeln werden, daß wir nicht, wie in nor- 
maler Zeit in England, zwei große Parteien haben, sondern drei, Kon- 
servative, Liberale und das Zentrum, da ist eine Parteiregierung in eng- 
lischem Sinne, in überliefertem, parlamentarischem Sinne fast eine Unmög- 
lichkeit; jedenfalls ist eine dahin gehende Forderung von den liberalen Par- 
teien, eine liberale Parteiregierung zu bilden, nicht erhoben.  Ich möchte 
ferner einmal die Frage aufwerfen, wo jemals in der Geschichte Deutsch- 
lands oder irgend eines anderen europäischen Landes in einer großen Zeit 
mächtiger Umgestaltungen und bedeutender legislativer Erfolge, — wo hat 
es jemals eine große liberale Partei gegeben, die in früheren Zeiten stärker, 
bis zu dem heutigen Augenblick immer noch erheblich wirken kann, wie ge- 
rade die nationalliberale, mit der in früheren Jahren 10, 12 Jahre hin- 
durch der Herr Reichskanzler zusammen gearbeitet hat, die in der Mehrheit 
des Landtages und Reichstages einen sehr wesentlichen numerischen Bestand- 
teil nicht bloß bildete, sondern auch sachlich in ihrer Tätigkeit einen ganz 
hervorragenden Anteil genommen hat, wo hat es, sage ich, jemals ein Land 
und eine Zeit gegeben, wo nie und in keinem Augenblick aus den Kreisen 
einer solchen oder irgend einer ähnlich starken und einflußreichen Partei in 
der ganzen Zeit hindurch der Anspruch erhoben wurde, daß auch nur ein 
Mitglied dieser Partei in die Regierung eintreten sollte: Wo hat das je- 
mals stattgefunden: Ja, m. H.H, wenn man die Entwickelung hier in 
Deutschland und in Preußen seither überblickt, kann man sich sogar fragen, 
ob es richtig gewesen ist, daß die nationalliberale Partei so gehandelt hat. — 
Dafür sind verschiedene Gründe maßgebend gewesen. Der entscheidendste 
Grund war aber der, daß wir das Durchsetzen wichtiger legislativer Maß- 
regeln, für die wir nach unseren Grundsätzen ein erhebliches Gewicht in 
die Wagschale legen konnten und sollten, — daß wir das nicht davon ab- 
hängig machen wollten, ob daneben auch Personenfragen in einem der Partei 
günstigen Sinne entschieden würden. Man begnügte sich damit, mit dem 
Reichskanzler und einer konservativen Regierung zusammenzuwirken für das- 
jenige, was man im Interesse des Reiches und des Staates Preußen für 
wohltätig hielt, und niemals hat man verlangt, wenn man auch noch so 
großen und nicht zu entbehrenden Einfluß auf die Gesetzgebung ausübte, an 
der Regierung selbst teilzunehmen. Nein, m. H.H., wir haben ruhig das 
durch Administrateure und Mitglieder der konservativen Partei besetzen 
sehen, was an Lücken im Ministerium und in der Reichsregierung ein- 
getreten ist. — Nun, m. H.H, wenn also die Zustände jetzt anders gewor- 
den sind, so liegt doch wohl ein nicht unerheblicher Teil der Schuld auch 
an der Art und Weise, wie die Verhältnisse seitens der Regierung und auch 
seitens des Herrn Reichskanzlers selbst behandelt worden sind. Ein nicht 
geringer Teil der Schuld — ganz abgesehen von der etwa noch nicht voll- 
ständig reifen oder vollständig zutreffenden Durcharbeitung einzelner Vor- 
lagen — liegt wesentlich darin, daß das Maß der legislatorischen Arbeit, 
welche in Deutschland, im Reiche und Preußen, dem Parlament zugemutet 
wird, über alles Zulässige allmählich hinausgegangen ist. — M. H.H., weder 
Minister, noch hohe Staatsbeamte, noch parlamentarische Abgeordnete wer- 
den auf die Dauer im Stande sein, ohne Schaden für sich und das Ganze 
eine solche Arbeit weiter fortzuführen, wie sie bei der freudigen und um- 
fassenden Umgestaltung in einer großen Zeit im ersten Augenblick in einer 
Reihe von Jahren möglich war. Nein, m. H.H., das Jahr hat nicht Mo- 
nate, und der Tag hat nicht Stunden genug, um eine solche Arbeit dauernd 
fortzusetzen, wie sie die Regierungen und Parlamente in der Bearbeitung
	        
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