Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreiundzwanzigster Jahrgang. 1882. (23)

158 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Sept. 6.) 
die steigende Auswanderung der letzten Jahre namentlich nach 
Nordamerika an, 
um zu einem Entschluß zu kommen, ob und wie es angänglich sei, 
den hierbei zu Tage getretenen Übelständen in wirksamer Weise entgegenzu- 
treten, damit Auswanderer vor dem Verlassen des Vaterlandes zur Erfüllung 
zweifellos bestehender öffentlicher wie privatrechtlicher Verpflichtungen, ins- 
besondere der aus dem Gemeindeverbande, der Familienangehörigkeit, dem 
Dienst- oder Arbeiter-Vertragsverhältnisse sich ergebenden Verbindlichkeiten 
angehalten werden können.“ 
6. September. (Deutsches Reich.) Die halbamtl. preuß. 
„Prov.-Korr.“ spricht sich im Interesse der Einführung neuer in- 
direkter Steuern von Seite des Reichs gegen eine Reform der di- 
rekten Steuern in Preußen und eine dabei allerdings unausweich- 
liche schärfere Heranziehung des Kapitals, um die untersten Stufen 
der Klassensteuer ganz zu beseitigen — wie es der nun abgetretene 
Finanzminister Bitter beabsichtigt und v. Bennigsen in seiner Reichs- 
tagsrede vom 15. Juni neuerdings angeregt hatte — in einer Weise 
aus, die geradezu allgemeines Erstaunen hervorruft und von allen 
Seiten, namentlich auch von der konservativen „Kreuzztg.“ und der 
freikonservativen „Post“ energisch zurückgewiesen wird. 
Die Hauptstelle des Artikels der „Prov. Korr.“ lautet: „Wollte der 
Staat sich getrauen, seinen Bedarf überwiegend dem großen Kapital zu ent- 
nehmen mittelst hoher progressiver Vermögenssteuern, Erbschaftssteuern  pro- 
zentualer und progressiver Besteuerung der Börsengeschäfte u. s. w., so würde 
er den größten materiellen Hebel jeder eigentlichen Zivilisation, nämlich die 
Kapitalbildung und das zu derselben gehörige Operationsfeld des Kapitals 
auf seinem Boden zerstören. Die Folge einer solchen Steuerpolitik würde 
sein, daß das deutsche Volk zum Teil sich der Kapitalbildung entwöhnte, 
um wirtschaftlich und ebenso in allen andern Beziehungen unaufhaltsam auf 
die Stufe der Barbaren zu sinken. Ein anderer Teil, welcher dem Trieb 
der Kapitalanlage als dem Erbteil einer langen Kulturgewohnheit zu folgen 
fortfahren würde, dürfte sich dazu den Boden des Auslandes aufsuchen, ohne 
dadurch der zunehmenden heimatlichen Barbarei Zu steuern. Der Trieb der 
Kapitalbildung ist kein Naturtrieb, sondern eine Eigenschaft, welche der 
menschliche Charakter durch die Kultur erwirbt und welche gepflegt und ge- 
schont sein will. In einem großen Teil der Menschheit, vielleicht in dem 
zahlreichsten, erheben sich ganze Bevölkerungsschichten noch nicht über ein 
leichtsinniges oder ein resigniert stumpfes aus der Hand in den Mund leben. 
Fängt man an, die Gewohnheit der Kapitalbildung mit Hindernissen zu 
umgeben und gleichsam Strafen darauf zu setzen, so könnte man selbst bei 
einem alten Kulturvolk überraschend schnell zur Ausrottung dieser Eigen- 
schaft und damit des ersten Hebels der Kultur gelangen.“ In ihrer folgen- 
den Nummer, acht Tage später, nimmt die „Prov. -Korr. “ ihre Äußerungen 
als „Mißverständnis" so viel als zurück: sie habe nur eine „rein theoretische" 
Ansicht ausgesprochen, daß, wenn „vorwiegend“ das mobile Kapital zur Be- 
friedigung des Bedürfnisses herangezogen würde, die Kapitalsbildung nicht 
nur erschwert, sondern unmöglich gemacht würde, ein Satz, den weder Freund 
noch Feind bestreite, und fügt dann hinzu: „Der Frage selbst, ob das mo- 
bile Kapital in irgendeiner Form, entweder im Wege der Kapitalrentensteuer 
 
	        
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