Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Ende Sept) 177
damit die Verfassungen selbst, die sie stipuliert haben, wären dann anti-
monarchisch. — Übrigens sind die Konservativen auch unter sich über die
bei den Landtagswahlen zu befolgende Taktik nicht einig. Die „Kreuz-
zeitung“ fordert, daß unter keinen Umständen zu Gunsten liberaler Kan-
didaten konservative Stimmen abgegeben werden sollen; sie meint, es
hieße „den Konservativen nicht bloß eine unglaubliche Dummheit, sondern
auch einen erbärmlichen Mangel an Selbstbewußtsein zutrauen, wenn
man ihnen zumutet, für ihre geschworenen Feinde bei der Wahl ihre
Stimmen abzugeben“. Dagegen sind die mehr mit der Regierung liierten
konservativen Organe der Meinung, ein solches Verfahren würde teils dem
Zentrum, teils, und zwar überwiegend, dem Radikalismus zugute kommen
und die Konservativen der Möglichkeit einer andern als einer klerikalen
Allianz berauben.
Die „große liberale Partei“, wie sie die Sezessionisten planten, kann
schon jetzt als gescheitert angesehen werden und zwar gescheitert durch den
bisherigen Führer der Fortschrittspartei, den radikalen Hrn. Eugen Richter,
der eine große Wahltätigkeit entfaltet, aber nicht sowohl gegen die konser-
vativ-ultramontane Koalition, sondern gegen die Nationalliberalen, denen er
möglichst viel Sitze zu Gunsten seiner Anhänger in der Fortschritts- partei
abzusagen sucht. Der von Hänel speziell für die Wahlen beabsichtigte
Kompromiß wird, von Richter und seiner einseitigen Agitation durch-
kreuzt, allem Anschein nur in wenigen Wahlreffen zu stande kommen. Die
Aussichten der Liberalen werden dadurch bez. der Wahlen stark gemindert.
Ihre Organe schildern die Lage selbst folgendermaßen: „Das preußische Ab-
geordnetenhaus zählt 433 Mitglieder, die Mehrheit beträgt sonach 217. In
dem jetzt erlöschenden Abgeordnetenhause zählten die Nationalliberalen 86,
die Fortschrittspartei 37 Mitglieder; „bei keiner Fraktion" waren 23 Ab-
geordnete liberaler Richtung (darunter die liberale Vereinigung"). Die
gesamte liberale Seite des Hauses zählte somit 146 Mitglieder und es
fehlten 71 Stimmen an der Mehrheit. Diese müssen gewonnen werden,
wenn die konservativ-klerikale Mehrheit gesprengt werden soll. Daß man
auf Kosten des Zentrums wesentliche Eroberungen nicht erhoffen kann, liegt
bei der unnahbaren Sicherheit der meisten ultramontanen Wahlkreise auf
der Hand; es kann sich nur in vereinzelten Wahlkreisen um Verdrängung
des Zentrums handeln. Die liberalen Siege müssen der Hauptsache nach
auf Kosten der Konservativen errungen werden. Die konservative Fraktion
zählte in der letzten Session 109, die freikonservative 49 Mitglieder, zu-
sammen also 158. Diesem konservativen Besitzstand die Hälfte, 70 bis 80 Man-
date zu entreißen, ist die Aufgabe der Liberalen, die freilich nicht erfüllt
werden wird, wenn sie nicht einig sind. Ermutigend ist nur der Umstand,
daß in der nächstvorangegangenen 13. Legislaturperiode das ganze konserva-
tive Lager aus 32 Frei-, 26 Neu- und 9 Altkonservativen, zusammen also
67 Mitgliedern bestand, und in der 12. Legislaturperiode aus 34 Frei-, 24
Neu- und 3 Altkonservativen, zusammen also 61 Mitgliedern. Es wird sich
nun zu zeigen haben, ob diese Zahlen das normale Verhältnis darstellten
oder die weit höheren Zahlen des Jahres 1879."
— September. (Deutsches Reich) Die ägyptische Frage
hat auch in Deutschland die öffentliche Meinung seit dem englischen
Bombardement Alexandriens fortwährend lebhaft beschäftigt, wenn
auch allerdings lange nicht so intensiv wie diejenige mehrerer anderer
europäischer Staaten. Es steht nachgerade fest, daß der deutsche
Schulthess Europ. Geschichtskalender. XXIII. Bd. 12