Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Okt. 3.) 170
gestrebte Bildung einer Mittelpartei durch eine Verbindung mit der frei-
konservativen Fraktion. Die Sezessionisten erlassen indeß auch noch einen
besonderen Wahlaufruf an die preußischen Wähler, der in demselben Sinne
wie die Gothaer Resolution gehalten an die auf ihrem Parteitage vom 6. Mai
zu Berlin beschlossenen Thesen nebst Fraktionsprogramm anknüpft.
3. Oktober. (Preußen.) Wahlaufrufe der ultramontanen
Partei.
Der Wahlaufruf des Vorstandes der Gesamtpartei wird in der „Ger-
mania“ veröffentlicht und ist offenbar absichtlich „im Mai 1882“ zurück-
datiert. Die Forderungen der Partei sind die alten, schon so oft formu-
lierten: „.. Die Erkenntnis, daß die Störung des inneren Friedens auf
kirchlichem Gebiete die schwersten Schäden herbeigeführt, daß diesem uner-
träglichen Zustand ein Ende zu machen sei, hat sich mehr und mehr Bahn
gebrochen. Hoffen wir, daß den Anfängen zu einer Besserung bald die volle
Tat folge. Die Zentrumsfraktion hat den Bestrebungen, Härten zu mildern,
für die Herbeiführung des Friedens Zeit und Boden zu gewinnen, welche
Bestrebungen die konservative Partei in dankenswerter Weise unterstützte
ihre Mitwirkung und Zustimmung nicht versagen dürfen. Aber wir haben
stets festgehallen und halten fest an der Forderung freier Bewegung und
Selbständigkeit für die Kirche, daher der Beseitigung der dieselbe hemmenden
Schranken und besonders aller der Gesetze, welche die unveräußerlichen Rechte
der Kirche, den christlich-konfessionellen Charakter der Schule, das Recht der
Eltern auf die Erziehung ihrer Kinder beeinträchtigen. Daß die Um-
kehr von den Wegen des falschen Liberalismus auf allen Gebieten des öffent-
lichen Lebens notwendig ist, wiederholen wir nochmals, weil — ohne zu
verkennen, was zum Wohle des Grundbesitzes, der Gewerbe, insbesondere
des Handwerks und der Arbeit erstrebt und geschehen ist, wir doch die
Stetigkeit und Klarheit vermissen, welche auf dem Gebiete der Gesetzgebung
wie der Verwaltung unbedingt notwendig, das Recht und die Pflicht einer
christlich konservativen Regierung ist. Von diesem Grundgedanken muß auch
die Entwicklung der Selbstverwaltung in Gemeinde, Kreis und Provinz ge-
tragen sein, frei von bürokratischer Schablone und Gleichmacherei, unter
Wahrung der berechtigten Eigentümlichteiten und liebgewordenen Einrichtungen
der einzelnen Landesteile. Die vor drei Jahren im Reichstage unter Anre-
gung und mit Unterstützung des Zentrums eingeschlagene Wirtschaftspolitik
hat sich trotz der traurigen Folgen wiederholter Rückschläge in den Ernten
des Landes als richtig und nutzbringend bewährt. Durch eine weise und
sparsame Finanzwirtschaft muß dieselbe voll ausgenutzt und ferner Sorge
getragen werden, die Steuerlast tunlichst zu erleichtern, dieselbe gerecht und
gleichmäßig zu verteilen. Das sind die Grundsätze etc.“ Wie die „Germania“
erläuternd zu dem Aufrufe bemerkt, gibt derselbe ein Bild der Stimmung
und der Hoffnungen, welche zunächst „nach der glücklichen Erledigung des
letzten kirchenpolitischen Gesetzes“ beim Zentrum herrschten und, wie die
„Germania“ annehmen zu dürfen glaubt, auf konservativer Seite ihr Echo
fanden. Jetzt seien diese Hoffnungen bedeutend herabgedrückt — durch die
Schuld der Regierung, welche die Ausführung jenes Gesetzes verweigere und
die Hoffnung auf eine entschlossene antiliberale Reformpolitik auf ein Mini-
mum reduziert habe. Das Wort von einer „christlich-konservativen Regie-
rung“ sei leider schon beinahe etwas veraltet, die „Stetigkeit und Klarheit“
sei der Regierungspolitik noch mehr in Abgang. gekommen. Der kapitalisti-
sche Anstrich, den man der Sozialreform gegeben, und die einseitige Verfolgung
der enormen Erhöhung der indirekten Steuern sei wahrlich nicht geeignet,
dem Zentrum die Mitarbeit an den Plänen der Regierung zu erleichtern.