Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreiundzwanzigster Jahrgang. 1882. (23)

180 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Okt. 5.) 
Die Partei habe das Ihrige getan, um im Verein mit den Konservativen 
der Regierung die Abwehr der liberalen Gefahr zu ermöglichen. Stoße die 
Regierung die konservativen Elemente zurück, so trage sie allein die Verant- 
wortung für die eventuell hereinbrechende Krisis. Der ultramontane Wahl- 
aufruf wird in der liberalen Presse ziemlich geringschätzig besprochen: 
„Zwei Seelen wohnen bekanntlich gegenwärtig in der Brust des Zentrums: 
die eine hofft mil Hilfe der Regierung und der Konservativen die ultramon- 
tanen Bestrebungen zu fördern, die andere glaubt nach den Vorgängen der 
letzten Monate nicht mehr an diese Möglichkeit und ist wieder „fertig zum 
Gefecht.“ In ziemlich komischer Weise hat das Zentrum sich angesichts 
dieser Sachlage mit der Aufgabe, einen Wahlaufruf zu erlassen, abgefunden: 
man veröffenllicht mit der Bemerkung, daß er bereits im Mai abgefaßt 
worden und daher in dem hoffnungsvollen Ton der damaligen Sachlage ge- 
halten sei, einen solchen Appell an die Wähler — und läßt unmittelbar 
dahinter in der „Germania“ einen Kommentar dazu erscheinen des Inhalts, 
daß der Aufruf jetzt eigentlich nicht mehr zur Situation passe! In dem 
Kommentar wird  fast Satz für Satz das Gegenteil dessen gesagt, was im 
Aufruf steht.“ Die Wahlaufrufe der ultramontanen Parteiführer in den 
Provinzen sind neueren Datums, spiegeln deshalb die augenblickliche Stim- 
mung der Partei besser ab und sind denn auch erheblich schärfer und schroffer. 
So macht derjenige an die klerikalen Führer der Rheinlande der RNegie- 
rung Vorwürfe, an dem Stillstand des Friedenswerks Schuld zu sein, indem 
sie nicht nur von einer organischen Revision der kirchenpolitischen Gesetzge- 
bung nichts wissen wolle, sondern nicht einmal von den ihr in dem Juli- 
gesetz verliehenen Vollmachten Gebrauch gemacht habe. Die Staatsregierung 
sei hinter den Wünschen der parlamentarischen Mehrheiten zurückgeblieben, 
welche durch Zustimmung zu dem Antrag Windthorst auf Abschaffung des 
Internierungsgesetzes und zu dem neuesten Kirchengesetz die Bereitwilligkeit 
kund gaben, den drückendsten Beschwerden des katholischen Voltes abzuhelfen. 
Nur eine organische Revision der ganzen Maigesetzgebung könne zum Frieden 
führen. Worin diese bestehen soll, wird nicht gesagt; aber man weiß hin- 
länglich, was die Klerikalen wollen — die totale Beseitigung der Maige- 
setze. Ebenso erklärt der spezielle Wahlaufruf für Westfalen: „Leider 
haben sich unsere berechtigten Erwartungen keineswegs verwirklicht. Selbst 
die bescheidenen Hoffnungen, die sich an das Gesetz vom 31. Mai ds. Jrs. 
knüpften, hat man unerfüllt gelassen und uns dadurch eine abermalige bittere 
Täuschung bereitet. Die Bestimmungen des Gesetzes sind bis zum heutigen 
Tage unbenuzt geblieben. Auch nicht ein einziger unserer vertriebenen Ober- 
hirten hat aus der Verbannung zurückkehren dürfen. Nicht einmal die schon 
jahrelang verhängte Sperre der unseren Geistlichen rechtlich zustehenden Be- 
züge hat man in den sieben Diözesen, in denen sie, und zwar in schneiden- 
dem Gegensatze zu den übrigen, noch besteht, zu beseitigen sich herbeigelassen. 
Als es sich um Gesetze und Maßregeln gegen uns handelte, da überstürzte 
man sich in eifervollem Vorgehen; wo es sich nun aber um eine von fast 
allen Parteien längst als billig erkannte Erleichterung für uns handelt, da 
kennt man seit Monaten nichts als kalte, unerklärliche Zurückhaltung. Wir 
erwarten, daß unsere Abgeordneten die Klarstellung dieses unerträglichen 
Zustandes der Dinge bewirken." 
5. Oktober. (Preußen) sichert sich die braunschweigischen 
Eisenbahnen, indem die dortige Regierung ihm das Anerbieten macht, 
jene Bahnen in Betrieb zu nehmen. Der Abschluß eines diesfälligen 
Staatsvertrags wird angebahnt.
	        
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