Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Nov. 7.) 197
das Verhältnis der Parteien untereinander und zur Regierung
nehmen in der Presse mit großer Lebhaftigkeit ihren Fortgang.
Das Organ der Regierung, die „Nordd. Allg. Ztg.“ fährt fort, die
konservative Partei als eine reine Regierungspartei zu betrachten und zu
behandeln, und die Prov. Korresp. behauptet. daß „wohl nirgends Mei-
nungsverschiedenheit darüber obwallen könne, daß die konservativen Wähler
in Preußen zum größten Teile Männer seien, die den Staat nirgends besser
aufgehoben sehen wollen, als in der Weisheit des Königs und in der Ein-
sicht derjenigen Ratgeber, denen er sein volles Vertrauen schenke.“ Die
„Kreuzztg." lehnt dagegen dieses Verlangen eines unbedingten Gehorsams
gegen die Minister ihrerseits entschieden ab und erklärt, daß die Sozial- und
Wirtschaftspolitik allerdings in untrennbarem Zusammenhange ständen und
nur von den konservativen Parteien und im Verein mit dem Zentrum im
Sinne der Regierung gelöst werden könnten; die volle Verantwortung aber
für den Verlauf der parlamentarischen Kampagne könne offenbar nur eine
Partei auf sich nehmen, die sich nach jeder Seite die volle Aktionsfreiheit und
Selbständigkeit bewahre. Die hochkonservativen „Politischen Gesellschafts-
blätter“ sprechen sogar offen aus, daß die konservativ-klerikale Politik aus
parlamentarischer Initiative eventuell auch gegen die Regierung betrieben
werden könnte. Endlich meint der hochkirchliche „Reichsbote“: „Das Ver-
langen der Prov. Korresp. ist vortrefflich; nur übersieht das halbamtliche
Blatt, daß wir eine Verfassung haben, die wir, ob sie unseren Wünschen-
entspricht oder nicht, nicht ignorieren können, und daß diese Verfassung uns
die Pflicht auferlegt, eine eigene Meinung zu haben und sie an der Wahl-
urne und, des favente, im Abgeordneten Hause auch zu äußern." Ange-
sichts dieses Widerstandes macht denn auch die „Nordd. Ztg.“ eine
kleine „Rückwärtskonzentrierung“, indem sie zu bestreiten sucht, daß von der
preußischen Regierung irgend eine Initiative zur Bildung einer neuen Mehr-
heit im preußischen Abgeordnetenhause ergriffen worden sei. „Wenn eine
Partei.“ sagt sie, „die Regierung unterstützt, so wird sie des Dankes aller
derjenigen sicher sein, welche sich nicht durch Fraktionsrücksichten bestimmen
lassen, sondern die Förderung des Staatswohles als Ziel nehmen. Eine
solche Partei würde naturgemäß einen Einfluß aufs die Regierung gewinnen,
weil sich beide auf ihren Wegen treffen müßten. Aber unserer Auffassung
nach muß und wird die Regierung abwarten, daß ihr Unterstützung ent-
gegengebracht werde. Und selbst wenn dies geschieht, darf sie es nie aus
dem Auge verlieren, daß sie verbunden ist, die Rechte der Krone gegen
Majoritäts- vergewaltigungen zu vertreten.“ Nachdem von nationalliberaler
Seite die offiziösen Werbungen mit kühler Reserve aufgenommen, von deutsch-
konservativer die offiziösen Belehrungen mit beharrlichem Trotze erwidert
worden, ist ein solcher Rückzug auf die Position „zwischen den Parteien“
nicht aufhaltend. Die liberalen Blätter diskutieren inzwischen die Notwen-
digkeit einer Änderung des Wahlsystems. Die „Nat.-lib. Korresp.“ verlangt
ein gleiches System für die -Landtags und die Reichstagswahlen, weil es
zu ungesunden und unhaltbaren Zuständen führen müßte, wenn dauernd
die Vertretungen im Reiche und in Preußen einen verschiedenen Charakter
trügen und die „Nat.-Ztg.“ erinnert daran, daß kurz nach der Begründung
des deutschen Reichstages der Vorschlag gemacht wurde, das preußische Ab-
geordnetenhaus aus den preußischen Mitgliedern des Reichstages bestehen zu
lassen.
7. November. (Deutsches Reich.) Bundesrath: die Re-
gierung legt demselben einen Gesetzentwurf betr. Abänderung des