Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Nov. 17.) 207
tigen bis zur Stufe von 6.000 Mark Einkommen hinauf die Verpflichtung zu
einem Steuererlaß übernommen sei, sobald dazu die Lage des Staatshaus-
halts die Mittel gewährte, und er ward nicht müde zu versichern, daß für
das Jahr 1881/82 ein Steuererlaß von 14 Millionen gerechtfertigt sei, trotz-
dem er für das selbe eine Anleihe von 28 2/3 Millionen in Anspruch nehmen
mußte. Und während die Mittelparteien einmütig dieser seltsamen Art von
Volksbeglückung entgegenstimmten, ließ sich Herr Bitter durch seine „Dulcigno-
flotte“, wie Herr Hobrecht sie spöttisch nannte, von Konservativen und Fort-
schrittlern, Ultramontanen und Sezessionisten sogar dahin treiben, den ein-
maligen Erlaß in einen dauernden zu verwandeln. Fürst Bismarck freilich
war einsichtig und offenherzig genug, diesen Erlaß als den Marschallstab zu
bezeichnen, der über die Mauer geworfen werde, um die Ehre zu verpfänden,
daß er zurückgeholt werde -- d.h. er gestand zu, daß der Erlaß vorläufig
nur darum sich rechtfertige, weil man damit die Parteien zur nachträglichen
Deckung des Ausfalls im Reichstage verpflichte — aber dem hatte ja Herr
Bitter aufs wirksamste entgegengearbeitet durch die Versicherung, daß die
Finanzlage den Erlaß rechtfertige, also eine weitere Deckung nicht nötig sei.
Mit gleicher Überzeugungswärme rühmte dann Herr Bitter im folgenden
Winter sich eines „Überschusses“ von 29 Millionen aus dem Etatsjahre
1880/81, obwohl dieser nur darin bestand, daß von einer etats- mäßigen An-
leihe von 37 Millionen nur 8 Millionen gebraucht worden — also
29 Millionen eigentlich gar nicht hätten begeben werden sollen. Vermittelst
dieses eigenartigen „Überschusses“ vermochte es denn Herr Bitter, im Etat
für 1882/83 das „Gleichgewicht" herzustellen und noch obendrein einen neuen
Steuerlaß von 6 2/3 Millionen zu bewilligen. Das Ergebnis dieser Finanz-
weisheit ist, daß nun sein Nachfolger, dem ein ähnlicher „Überschuß“ nicht
zur Verfügung steht, genötigt ist, zur Aufrechterhaltung des Steuererlasses
von 20 2/3 Millonen und zur Deckung des Extraordinariums eine neue An-
leihe von nahezu 32 Millionen in Anspruch zu nehmen. — Das preußische
Abgeordnetenhaus steht also vor der Frage, ob es zum drittenmale sehenden
Auges den jetzigen Steuerzahlern an laufenden Staats- bedürfnissen 20 2/3 Mill.
erlassen will, um sie auf die künftigen Steuerzahler im Wege der Anleihe
abzuwälzen. Die Zumutung ist finanzpolitisch so unerhört, daß man zu
der Vermutung gedrängt wird, die Regierung habe die unpopuläre Maß-
regel der Zurücknahme des Steuerlasses, den sie selbst vorgeschlagen, der Ge-
wissenhaftigkeit der Abgeordneten zuwälzen wollen. Dann soll ein weiterer
Erlaß von 12 Millionen durch gänzliche Aufhebung der vier untersten
Klassensteuerstufen durch eine Lizenzsteuer auf Getränke und Tabak gedeckt
werden, die in allen Parteien ziemlich der gleichen Abneigung begegnet.
Wer aber nun weder den Mut hat, die Rücknahme des bisherigen Steuer-
erlasses vorzuschlagen, noch die Aufhebung der untersten Steuerstufen be-
kämpfen will, aber auch nicht die vorgeschlagene Steuer billigen oder eine
andere an deren Stelle bieten kann, dem bleibt kein Ausweg, als ehrlich zu
gestehen. daß Preußen ganz abgesehen von seinem Defizit von 11 Millionen
im Extraordinarium eines weiteren Zuschusses von 33 Millionen seitens
des Reichs bedarf — was einer neuen Reichsbesteuerung von 55 Millionen
gleichkommt.“ Offenbar ist das auch die Anschauung und der Plan des
deutschen Reichskanzlers und preußischen Ministerpräsidenten. Von der Ein-
bringung eines neuen Verwendungsgesetzes nimmt derselbe Umgang: die Be-
dürfnisfrage soll tatsächlich zur Entscheidung gebracht werden. Da jedoch
alle Parteien, wenn auch aus sehr verschiedenen Motiven, zwar geneigt sind,
dem Reichskanzler zur Aufhebung der untersten 2, 3 oder 4 Stufen der
Klassensteuer die Hand zu bieten, die vorgeschlagene Lizenzsteuer dagegen bei