Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreiundzwanzigster Jahrgang. 1882. (23)

240 Das deutsche Reich und seine einzeluen Glieder. (Dez. 18.) 
Rußland tritt in der deutschen Presse momentan wieder stark in den 
Vordergrund 
Die „Köln. Ztg.“ bringt einen alarmierenden Artikel über russische 
Rüstungen und die   Anhäufung russischer Truppen an der deutschen Grenze. 
Der Artikel wird für offiziös gehalten, jedoch allem Anschein nach mit Un- 
recht. Fach-militärische Erörterungen weisen nach, daß den russischen Trup-- 
penmassen in Polen die bis rückwärts zur Elbe hin, d. h. für ein ungefähr 
gleich großes Gebiet, liegenden deutschen Truppen so ziemlich das Gegenge- 
wicht hielten, daß zwar allerdings längs der russischen Grenze gewaltige 
Kavalleriemassen echelonniert seien, aber auf einer so ungeheuer langen Linie, 
daß ein Zusammenzug derselben schwierig und zeitraubend sei und daß die 
von Rußland im Weichsellande unternommenen Befestigungen und strategi- 
schen Bahnen noch lange nicht fertig sein würden und jedenfalls mehr auf 
die Defensive als auf eine Offensive hindeuteten. Gleichzeitig tritt Katkow 
in seiner „Moskauer Ztg.“ für die Gestaltung eines friedlichen und freund- 
lichen Verhältnisses zwischen Rußland und Deutschland ein und es wird darauf 
hingewiesen, daß seine Stimme augenblicklich wenigstens in den maßgeben- 
den russischen Kreisen von Gewicht sei. Die öffentliche Meinung beruhigt 
sich denn auch in Deutschland bald wieder. Als Tatsachen bleiben nur 
zurück. daß die deutschen Garnisonen zunächst der russischen Grenze verhält- 
nismäßig sehr schwache seien, daß eine Vervollständigung der strategischen 
Bahnen nach der russischen Grenze hin wünschbar sein möchte und daß eine 
Vermehrung der deutschen Artillerie vielleicht früher oder später ins Auge 
gefaßt werden müsse. 
18. Dezember. (Preußen.) Ein Reskript des Reichskanzlers 
als preußischen Handelsministers an die Handelskammer von Osna- 
brück scheint dazu bestimmt, die mehrseitig erstrebte Reorganisation 
der wirtschaftlichen Interessenvertretung in bestimmte Bahnen zu 
lenken und gibt zugleich Auskunft über die Stellung der maß- 
gebendsten Instanz im Reiche zu dieser wichtigen Frage. 
Die Osnabrücker Handelskammer hatte schon seit längerer Zeit 
einen speziellen Reformplan in dieser Richtung aufgestellt und diskutiert. 
Nachdem nun im September d. J. auch der Zentralverband deutscher Indu- 
striellen dem Gegenstande näher getreten war, nahm die genannte Kammer 
in ihrer Plenarsitzung vom 30. Oktober 1882 Veranlassung, ihrer Stellung 
zu der gedachten Frage nochmals in folgenden Resolutionen Ausdruck 
zu geben, welche dem Reichskanzler und Handelsminister mit einem beson- 
deren Bericht unterm 10. d. M. überreicht wurden: „1) Die baldige Re- 
organisation einer Vertretung der wirtschaftlichen Interessen nach einem ein- 
heitlichen Plane für das ganze Deutsche Reich ist als ein von zahlreichen 
und bedeutenden Kreisen des Handels und der Gewerbe anerkanntes Bedürf- 
nis zu erachten. 2) Zu dem Zwecke ist die Neubildung von Handels- und 
Gewerbekammern für Handel, Industrie, Kleingewerbe und Landwirtschaft 
mit tunlich gleich großen Bezirken erforderlich, in denen die gesamten Er- 
werbsgruppen nach Maßgabe ihrer Bedeutung für den lokalen Bezirk ihre 
Vertretung finden. 3) Diese Kammern, welche zunächst von ihren bezüg- 
lichen Landesregierungen ressortieren, haben die Bestimmung, die Gesamt- 
Interessen der Handel= und Gewerbetreibenden ihres Bezirks wahrzunehmen. 
Sie dienen den Behörden als begutachtende Organe und sind jedenfalls zu 
hören über alle die wirkschaftlichen Interessen berührenden Gesetzvorlagen 
und Verordnungen, ehe dieselben in Kraft treten. 4) Neben diesen Körper-
	        
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