Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Jan. 4.) 5
so. ist dieselbe unzweifelhaft herausgefordert worden. Mit einer Agitation,
wie sie in den alt-preußischen Provinzen der größte Teil der richterlichen
Beamten gegen die Regierung anwendet, kann kein Regiment bestehen und
der radikale Hr. Eugen Richter als angebliche- Zukunftsminister würde ohne
Frage der erste sein, einer konservativen Opposition gegen sein Regiment auf
dem Verwaltungswege in der nachdrücklichsten Weise auf die Finger zu
schlagen. Auf der andern Seite herrscht in Preußen jetzt wirklich jene
„Reaktion", von welcher in Reichs- dingen zu reden für aufrichtige Leute ein-
fach lächerlich genannt werden muß. Die Ursache liegt eben darin, daß in
Preußen die Krone wie der Radikalismus die ihnen zu Gute kommenden
Paragraphen der Verfassung bis zum äußersten Grade anzurufen und
auszunützen pflegen. Damit ist aber keine verfassungemäßige Regierung
möglich; denn eine moderne Verfassung enthält stets widerspruchsvolle Punkte
und kann also nur mit gegenseitiger Geduld und Manier gehandhabt werden.
In dem Erlaß ist die preuß. Regierung ihrerseits wohl zu weit gegangen.
Mit dem — so scheint es wenigstens — Verlangen, daß die Beamten bei
den Wahlen für die jeweilige Regierung eintreten sollen, kann man sich
kaum einverstanden erklären, wenn man auch zugeben muß, daß der
Erlaß durch die fortschrittliche Agitation provoziert worden ist, welche ihrer-
seits pekuniären und sozialen Einfluß für ihre Zwecke maß= und zügel-
los anwendet und dabei der Regierung gegenüber den leidenschaftlichsten An-
griffen ein ruhiges Stillehalten zumutet, während diese selbe Fortschritts-
partei schon 1861 in ihrem Programm wirklich die Forderung gestellt hatte:
„Wir verlangen eine feste liberale Regierung, welche es versteht, ihren Grund-
sätzen in allen Schichten der Beamtenwelt unnachsichtlich Geltung zu
verschaffen."
Die gesamte Presse beschäftigt sich begreiflicher Weise sofort und aufs
lebhafteste mit dem Erlaß, und es ist alsbald außer Frage, daß die als
preußische Beamten auf der Linken sitzenden Mitglieder im Reichstag oder
im preuß. Landtag, wohin die Frage eigentlich gehört, eine Erklärung be-
bufs Wahrung ihrer Bürgerrechte und Bürgerpflichten abgeben werden.
Von einem "Konflikt" den allerdings ein offiziöser Berliner Brief der
Wiener „Polit. Korr.“ schon unter dem 27. Dezember v. J. förmlich an-
gekündigt hatte (s. d.), ist darum noch keine Rede, und selbst wenn er ein-
treten sollte, würde er kaum allzu lange dauern. Preußen ist nicht mehr
das zwischen „Junker und Kreisrichter“ geteilte von 1862, es ist das Preußen
nach 1866 und nach 1870/71. Die Parallele der jetzigen Zustände und
Stimmungen mit denen von 1862 trifft so wenig wie möglich zu. Von
dem Deutschen Reiche und Volke und seinen Verhällnissen abgesehen: im
preußischen Volke ist von einer Konfliktsgesinnung wie derjenigen des Jahres
1862 gar keine Rede. Was den damaligen Streit verschärfte, war die deutsche
Frage, welche unaufhaltsam zur Lösung drängte, und deren richtiger Lösung
das preußische Volk seine Regierung nicht gewachsen glaubte. Es war das
Gefühl der Beschämung, eine Regierung dem Parlamentarismus widerstreben
zu sehen, welche im Ausland sich bisher nur Niederlagen geholt hatte. Das
ist jetzt anders geworden; bis in den nationaler gesinnten Teil der Sozialisten
hinein ist man auf die auswärtige Politik des Kaiser-Königs und seines
Kanzlers stolz und von derselben befriedigt. Jenes damalige Gefühl der
lodernden Erbitterung kann in den diesmaligen Streit gar nicht hinein-
kommen. über kurz oder lang, aber wahrscheinlich sehr bald würden beide
Teile mit Bezug auf die von Preußen jetzt in Deutschland eingenommene
Stellung sich die Ehrenpflicht des noblesse oblige als Mittel zur Herbei-
führung des Friedens bewußt machen müssen Inzwischen wird der Erlaß
allerdings ziemlich allgemein als die Einleitung zu den im Spätherbst be-