Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreiundzwanzigster Jahrgang. 1882. (23)

6 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Jan. 6.) 
vorstehenden preußischen Landtagswahlen angesehen und auch vielfach weniger 
dem Fürsten Bismarck als der Anregung und dem Einfluß des Ministers 
des Innern v. Puttkamer zugeschrieben. 
6. Januar. (Preußen.) Die Amtsentsetzung des freisinnigen 
Diakonus Lühr in Eckernförde durch das orthodore evang.-luther. 
Consistorium für Schleswig-Holstein wegen Irrgläubigkeit (s. 1881 
15. Dez.) macht nachgerade großes Aufsehen, da sie auf die religiös- 
kirchlichen Zustände in Preußen ein sehr charakteristisches Licht wirst. 
Das Erkenntnis des Consistoriums lautet: „Das Consistorium 
in Gemeinschaft mit dem Synodalausschuß hat am 15. Nov. den Beschluß 
gefaßt, die wider den Diakonns Lühr erhobene Anschuldigung, daß er die 
Pflichten seines Amtes verletzt habe indem er: 1) unter dem Titel: „Zur 
Abwehr gegen Herrn Pastor Deckert's Ansprache an die Gemeinden“ eine 
Schrift an die Gemeindeglieder der Schleswig-Holsteinischen Landeskirche ge- 
richtet und veröffentlicht hat, welche in ihren Aussagen über die Person und 
das Werk Jesu Christi wesentliche Abweichungen von der in der heiligen 
Schrift enthaltenen und in der Augsburgischen Konfession bezeugten Glau- 
bensgrundlage unserer Kirche enthalten; 2) ähnliche Abweichungen auch in 
seiner lehramtlichen Tätigkeit mehrfach hat hervortreten lassen — für be- 
gründet zu erkennen und wider den Genannten wegen dieser Verletzung 
seiner Amtspflichten die Amtsentlassung zu verfügen, wie auch demselben 
die Kosten der geführten Untersuchung zur Last zu legen.“ In den Grün- 
den werden Stellen aus den Predigten des Beklagten, welche dessen Irr- 
glauben erweisen sollen, zitiert; das Resolut zollt aber dennoch dem Be- 
klagten eine unumwundene  Anerkennung, indem es ihm das folgende Zeugnis 
über seine Amtstätigkeit gibt: „Es muß daneben anerkannt werden, daß 
der Angeschuldigte die auch in seiner Broschüre ausgesprochenen positiven 
Gedanken von Gottes Barmherzigkeit und Gnade, so wie sie durch Christum 
historisch vermittelt ist, in seinen Predigten mit Frust und Wärme, zum 
Teil in schwungvoller Weise und ohne phrasenhafte Rhetorik vorgetragen hat. 
Insbesondere hat er von Christo als dem Anfänger und Vollender unseres 
Glaubens, von seiner Menschenliebe und seinem Gehorsam bis zum Tode 
mit dem Ausdruck warmer Liebe gepredigt, wobei er zugleich die Forderung 
aufgestellt hat, daß wir uns in das ganze Wesen Jesu vertiefen und auf 
diese Weise in eine Wesensgemeinschaft mit ihm eintreten sollen.“ Diese 
Anerkennung ist indessen nicht vermögend gewesen, jene Ausstellungen auf- 
zuwiegen. Im Schlusse des Erkenntnisses wird ausgeführt, nachdem der 
Beklagte sich auch durch die den gleicher Richlung angehörenden Pastoren 
Kühl und Diekmann erteilten Verweise nicht habe warnen und von der 
Herausgabe seiner Schrift nicht habe abhalten lassen, so habe das Konsi- 
storium von der sonst geübten „Duldung" Abstand nehmen und ihn seines 
Amtes entsetzen müssen. — In einem Schreiben an die „Itzehoer Nachr." 
teilt der Pastor Lühr nunmehr mit, daß er seine Verteidigungsschrift nebst 
dem Urteil des schleswig- holsteinischen Konsistoriums veröffentlichen möchte, 
eine solche Veröffentlichung aber recht viel Geld koste, das er aus seinen 
Mitteln nicht aufbringen könne. Dann fährt er fort: „Ich halte eine Ver- 
öffentlichung auch für dringend geboten, damit jedermann klar sehe und die 
Teilnahme nicht bloß an meinem Geschick, sondern an der Sache, für oder 
wider, weithin geweckt werde. Es ist keine Sache, welche die Theologen 
allein unter einander auszufechtem haben, ob die frei-protestantische Auf- 
fassung innere Berechtigung in unserer Landeskirche habe. Die Theologen
	        
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