Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Jan. 9.- 10.) 9
liegt unzweifelhaft in den Wahlergebnissen eines großen Teiles unserer
Wahlkreise, und das ist es, was mir in den Ergebnissen der letzten Wahlen
am Meisten zu Herzen gegangen ist. Ob die politischen Parteien sich etwas
verschieben, ob etwas mehr von den Mitttelparteien nach den Extremen hin
abgeht oder umgekehrt, das muß ich mir gefallen lassen, und das macht mich
nicht irre; aber diese Wahrnehmung, daß die Massen der Arbeiter selbst den
Versuchen der Regierung, ihre Lage zu verbessern, in dem Maße mißtrauisch
gegenüberstehen, daß sie lieber Vertreter der Richtung wählen, welche auf
dem wirtschaftlichen Gebiete das Recht des Stärkeren befürworten (Oho!
links. Hört! hört!), und welche den Schwachen in seinem Kampfe gegen die
Macht des Kapitals im Stiche lassen, ihm jeden Beistand versagen und ihn
dafür auf seine eigene Menschenwürde, auf die freie Konkurrenz und die
Privatassekuranz und auf — ich weiß nicht, was noch für Worte hinweisen,
kurz, die ihm jede Staatshilfe versagen, hatte ich nicht erwartet. Ich habe
als das System, welches ich nach dem Willen des Kaisers zu vertreten habe,
bei früheren Gelegenheiten aufgestellt: wir wollen dahin streben, daß es im
Staate wo möglich niemanden oder doch möglichst wenige gebe, die sich sagen:
Wir tragen nur die Lasten, haben aber kein Gefühl davon, daß der Staat
um unser Wohl und Wehe sich irgendwie bekümmert, daß die Zahl
dieser nach Möglichkeit vermindert werde. Es gehört zu den Traditionen
der Dynastie, der ich diene, sich des Schwachen im wirtschaft-
lichen Kampfe anzunehmen. Friedrich der Große sagte schon: je serai
le roi des gueux, und er hat es nach seiner Art durchgeführt in strenger
Gerechtigkeit gegen Hoch und Gering, nach der Art, wie seine Zeit es mit
sich brachte. Friedrich Wilhelm III. hat dem damals hörigen Bauernstand
eine freie Stellung. verschafft, in der es ihm gegeben gewesen ist, bis zu einer
rückläufigen Bewegung, die vor etwa 15 Jahren anfing. zu prosperiren,
stark und unabhängig zu werden. Unser, oder mein jetziger Herr ist von
dem edlen Ehrgeiz beseelt, wenigstens in seinem hohen Alter noch die Hand
angelegt und den Anstoß gegeben zu haben, daß für die heutzutage schwächste
Klasse unserer Mitbürger, wenn auch nicht die gleichen Vorteile und Ziele,
wie für den Bauer vor 70 Jahren, so doch eine wesentliche Besserung der
Gesamtsituation erzielt wird, daß noch zu Lebzeiten Sr. Majestät hieran
Hand angelegt wird, und daß die Bewegung begonnen wird, die vielleicht
in einem Menschenalter erfüllbar wird, vielleicht auch wieder ersterben mag
unter dem Drange und der Gewalttat anderer. Er hat es sich als Ziel
gesetzt, früher oder später auf diesem Gebiete nach einem analogen Zustand
zu streben, wie sein hochseliger Vater in der ewig denkwürdigen Emanzi-
pation der Bauern, die an die Namen Stein, Hardenberg und Friedrich
Wilhelm III. sich knüpft. Mit dieser Tendenz ist ja das Gehenlassen, das
Anweisen des Schwachen auf seine eigenen Kräfte durchaus in Widerspruch.
Nichtsdestoweniger und bei der vielgerühmten Treue, mit der der gemeine
Mann bei uns an der Dynastie und dem Königtum hängt, sind die Ver-
heißungen, die Anerbietungen einer emanzipierenden Gesetzgebung in den
großen Zentren der Industrie von den Arbeitern mit weniger Vertrauen
aufgenommen worden, als die Versprechungen der Herren, die kühl sagen:
Helft euch selbst, ihr seid dazu im Stande, ihr seid stark genug, Eure Un-
abhängigkeit erfordert das, vom Staate habt ihr nichts zu erwarten! Kurz,
die Niederlage, welche die Regierung oder ich persönlich in den großen
Zentren der Industrie bei den Arbeitern erlitten habe, hat mich bis zu
einem gewissen Grade entmutigt. Allein diese Entmutigung kann mich nicht
abhalten, meine Schuldigkeit zu tun, so lange ich im Dienste bin, wenn ich
auch eine ganz ausnahmslose Opposition gegen meine Vorlagen, wenn ich
auch den Korb, den ich bekomme, voraussehe, ich muß ihn bekommen und