10 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Jan. 10.—12.)
zwar öffentlich bekommen, um das Bewußtsein zu haben, meine Schuldigkeit
getan zu haben.“ Der Reichskanzler geht dann auf die einzelnen Punkte
der Interpellation über und erörtert namentlich die Frage einer Verminde-
rung der Arbeitszeit und eines Normalarbeitstages, sowie die weiter hieran
sich knüpfende Frage, ob die Industrie die ihr dadurch bereitete starke, zum
Teil enorme Mehrbelastung gegenüber der Konkurrenz zu tragen im Stande
sein werde, ohne sich zu ruinieren oder das Geschäft aufgeben zu müssen, in
welchem Falle die Arbeiter selbstversändlich noch schlimmer daran wären,
als bisher. „Ich kann mit der Versicherung schließen, daß mich die ganze
Darlegung des Vorredners sympathisch berührt hat, dass ich aber auch ihn
und seine Gesinnungsgenossen bitte, die Schwierigkeiten, die einer praklischen
Ausführbarkeit des Wünschenswerten — die Wünsche teilen wir ja ent-
gegenstehen, auch ihrerseits zu würdigen und nicht zu große unerfüllbare
Hoffunngen zu erregen, und daß ich Sie bitte, mit Geduld den Zeitpunkt
abzuwarten — ich hoffe, es wird im April nächsten Jahres sein — wo die
verbündeten Regierungen in der Lage sein werden, nach den Intentionen des
Kaisers das Bestreben zu betätigen, daß auch den Schutzlosen im Staate
die Überzeugung werde, daß der Staat nicht bloß ihrer sich erinnert, wenn
es gilt, Steuern zu zahlen und Rekruten zu stellen, sondern daß er auch an
sie denkt, wenn es gilt, sie zu schützen und zu stützen. damit sie mit ihren
schwachen Kräften auf der großen Landstraße des Lebens nicht übergerannt
und niedergetreten werden."
10. Januar. (Bayern.) II. Kammer: die ultramontane
Mehrheit derselben beschließt auf den Antrag Lerzer's, „S. M. den
König zu bitten, den bayerischen Bevollmächtigten im Bundesrat
anzuweisen, für die Herabminderung der Militärlast auf eine zwei-
jährige Präsenzzeit zu wirken“ und lehnt den Zusatzantrag Franken-
burger's „insoweit es ohne Schädigung der Wehrkraft des Reiches
geschehen kann“ mit ihrer Mehrheit gegen die liberale Minderheit ab.
In der Debatte erklärt Frankenburger (lib.): „Wir wollen das
Reich nicht nur erhalten, sondern die errungene Machtstellung konservieren.
Dadurch ist die volle Wehrhaftigkeit des Reichs und die Schlagfertigkeit des
Heeres bedingt. Für die Erhaltung des Reiches ist uns kein Opfer zu groß.
Widersoruch rechts.) Aber auch bei der Erhaltung der vollen Wehrkraft
des Landes sind wir der Meinung, daß Ersparnisse möglich sind. Ich und
ein großer Teil meiner politischen Freunde halten eine zweijährige Präsenz-
zeit der Infanterie für durchführbar. Schels lultram.) meint: „die Finanz-
misere Bayerns datiert von dem Tage, seit dem wir dem Reiche angehören
und somit von der erhöhten Militärlast“.
11.—12. Januar. (Deutsches Reich.) Reichstag: genehmigt
mit 233 gegen 115 Stimmen den Antrag Windthorst's auf Ab-
schaffung des Gesetzes vom 4. Mai 1874 betr. die Verhinderung der
unbefugten Ausübung von Kirchenämtern. Die Ultramontanen be-
trachten das Resultat als einen großen Erfolg. Die Regierung hat
zu dem Antrag Stellung nicht genommen. Der Bundesrat erteilt
demselben jedoch seine Zustimmung nicht, so daß er tatsächlich da-
hinfällt.