12 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Jan. 11—12.)
vor 10 Jahren zuletzt über Kirchenpolitik sprach bei dem Kanzelparagraphen,
da schloß ich meine Rede mit einem Hinweis auf die Möglichkeit solcher
Ereignisse, wie sie nun hier an uns herantreten. Damals, vor 10 Jahren,
befanden wir uns in der Frühlingszeit des deutschen Reichs, in einer ge-
wissen allgemeinen Friedfertigkeit und Vertrauensseligkeit; aber ich warnte
davor, dieses stille Parteileben zu überschätzen, und sagte damals: „Meine
Herren, täuschen wir uns doch darüber nicht, diese Stille wird nicht ewig
fortdauern. Der Gegensatz zwischen der großen Mehrheit der Bevölkerung
und der Regierung braucht nicht erst zu entstehen, er ist vorhanden; es ist
der Gegensatz zwischen dem Bestreben nach einer wirklichen par-
lamentarischen Regierung und einem Scheinkonstitutionalismus.
Wenn man diesem Gegensatz gegenüber temporisiert, wenn man seine Aus-
tragung vertagt, ja, wenn man ihn sogar dort, wo er am auffälligsten an
die Oberfläche tritt, durch ein Pauschquantum auf mehrere Jahre begraben
zu können meint, — der Gegenstand selbst wird nicht verschwinden, er muß
ausgekämpft werden. Es mag ja sein, daß die große persönliche Autorität,
deren die gegenwärtigen Machthaber und Staatslenker genießen, im Stande
ist, die Entscheidung dieses Kampfes in das nächste Dezennium hinauszu-
schieben, — uns jüngeren wird dieser Kampf nicht erspart werden, und ich
würde glauben, daß in diesem Kampf mir an der Rüstung ein wesentlicher
Ring fehlen würde, wenn man mir dann vorhalten könnte, ich hätte einst-
mals für ein solches Gesetz gestimmt.“ Nun, meine Herren, das Dezennium
ist angebrochen mit diesen Jahren, aus uns jüngeren sind ältere in diesem
Hause geworden, aber der Kampf — das sehen wir jetzt um so deutlicher —
ist uns nicht erspart, der Kampf bricht jetzt heran, und dieser Erlaß
vom 4. Januar ist die Aufforderung, klar zum Gefecht zu machen,
und in einer solchen Situation beeile ich mich, alles wegzuräumen in
dem Apparat, was, als unserem inneren Wesen fremd, für uns hinderlich
sein könnte, klar zum Gefecht zu machen.“
Bei der Abstimmung erklären sich für den Antrag Windthorst
das Zentrum geschlossen mit allen seinen welfischen, polnischen und elsässi-
schen Anhängern, die größere Hälfte der Deutsch-Konservativen, die kleinere
Hälfte der Freikonservativen, die große Mehrheit der Fortschrittspartei, die
Volkspartei und die Sozialdemokraten, gegen denselben die Nationalliberalen
geschlossen, die größere Hälfte der Freikonservativen, die kleinere Hälfte der
Deutschkonservativen, die meisten Sezessionisten und von der Fortschritts-
partei Hänel und seine näheren Freunde.
Nach der neuesten Fraktionsliste des Reichstags gehören an:
den Deutschkonservativen 49 (darunter als Hospitanten die Minister v. Goßler
und v. Puttkamer), der deutschen Reichspartei (Freikons.) 27, dem Zentrum
107 (darunter die 9 welfischen Hospitanten), den Polen 18, den National-
liberalen 45, der liberalen Vereinigung (Sezess.) 47 (darunter 4 Hospitanten),
der Fortschrittspartei 58, der Volkspartei 8, den Sozialdemokraten 12,
ferner 15 Elsaß- Lothringer und 10 Wilde, nämlich v. Bockum-Dolffs,
v. Bühler, Johannsen, Frhr. Langwerth v. Simmern, Lassen, v. Levetzow,
v. Ludwig, Dr. Schäffler, Dr. Stubel, v. Treitschke. Ein Mandat ist
erledigt.
Die Presse erblickt in dem Beschlusse eine unzweideutige Erklärung,
daß die Regierung den Reichstag nicht mehr für sich habe, wenn sie auf der
Aufrechthaltung der wesentlichen Grundsätze der Falk'schen Gesetzgebung. be-
harren wolle. Der gewandte Führer des Zentrums habe bei Stellung seines
Antrags die Absicht gehabt, das Friedensbedürfnis des Vatikans zu ver-
mindern und habe diesen Zweck auch erreicht. Bereits erkläre der „Offer-
vatore Romano“, daß die Kurie die Erweiterung der diskretionären Be-