Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreiundzwanzigster Jahrgang. 1882. (23)

454 Pußland. (Febr. 10—21.) 
einen Aufruf zum Kriege gegen Ssterreich bezeichnet. Die ganze 
panflavistische Strömung ist überhaupt in höchster Aufregung über 
den neuen Feldzug Osterreichs gegen Bosnien. 
10. Februar. Die Universität Charkow muß wegen Unord- 
nungen unter den Studenten zeitweilig geschlossen werden. 
16. Febrnar. Neue Brandrede Skobeleff's und zwar diesmal 
in Paris an die dortigen serbischen Studenten und wider Deutsch- 
land. Der Kaiser läßt dem kriegslustigen General die Aufforderung 
zugehen, nach Rußland zurückzukehren (s. unter Deutschland). 
21. Februar. Großer politischer Prozeß gegen die Nihilisten 
Trigonja, Michilow, Suchanow und Genossen, die der Teilnahme 
an den Attentaten der letzten Jahre, namentlich an der Ermordung 
des Kaisers Alexander, angeklagt sind. 
Neun derselben und eine Frau werden zum Tode, die übrigen zu 
Zwangsarbeit auf unbestimmte Zeit verurteilt. Suchanow wird erschossen, 
die übrigen werden zu Zwangsarbeit in den Vergwerken auf unbestimmte 
Zeit begnadigt. Im Ganzen sind 21 Angellagte. Die Männer sind zwi- 
schen 20 und 34 Jahren, von den vier Frauen ist die ölteste die Be- 
amten-Frau Lebedewa, 29 Jahre, die jüngste 20 Jahre alt. Dem Adels- 
stande gehören an fünf Männer und zwei Frauen; die übrigen zwei Frauen 
und dreizehn Männer sind aus den verschledensten Gesellschaftstlassen mit 
Ausnahme des Bauernstandes. 
— Februar. Die Zustände werden von aufmerksamen Be- 
obachtern sehr düster geschildert: 
„Wie lange soll, wie lange kann dieser Zustand noch dauern, wo in 
der Provinz ein Band der Ordnung nach dem andern zerreißt, Geseh und 
Recht zum Spolt werden, wo nur noch das große Heer der Beamien zügel- 
los waltet, ehe es von dem Erdboden weggefegt wird, wo der Rechtsgang 
stockt, hier ein Gonverneur stiehlt, der andere revolnutioniert, hier der eine 
Nihilisten einfängt und der andere welche schafft, wo über den Provinzen 
eine doppelte Regierung steht, von der die eine Hälfte für den Frieden ar- 
beitet, die andere Hälfte für den Krieg, wo die Quelle aller Gesetze und 
alles Rechts nicht wagen darf, einen Schritt aus der Umzännung seiner 
Festung hinaus zu machen? Ist das ein selbstherrlicher Staat? Wo sind 
die glaubensstarken Verheißungen jenes Manifestes geblieben, welche uns in 
Aussicht stellten einen neu befestigten Zarenstaat und den Ausbau der Selbst- 
herrschaft? Auflösung oder Krieg — und wahrscheinlich wieder Auflösung, 
das sind die Alternakiven. Zu verlieren ist wenig, zu gewinnen vielleicht 
auch nicht viel. Aber es gebietet nun einmal oft im Bölkerleben eine 
blinde Notwendigkeit, die wüich, nach Gründen fragt, noch nach Folgen. In 
Galschina sißt der Zar, die Zügel fest fassen wollte, eingeschlossen von 
Mauern und Pallisaden, ner bie- und Wächtern. Nachdem der erste große 
Aufschwung zur Neuordnung des selbstherrlichen Russenstaates zusammenge- 
brochen ist, nachdem überall Hand angelegt worden ist und nichls, durchaus 
nichts geschaffen wurde, ist der Rückschlag eingetreten. Vollkommene #pethie 
gegen die staatlichen Dinge herrscht in Gatschina. Der Zar schützt sein 
Leben, spaltet Holz, pflegt mit Woronzow körperliche übungen, sticht nachts 
Karpfen in den Teichen und kümmert sich möglichst wenig um das übrige.
	        
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