Kußland. (Auf. Juni.) 461
Unterbeamten und mit einem Kostenauiwand von 70,000 Rubel da-
hin, und zwar zunächst nach Niga, ab.
Die deutschen Elemente der Ostseeprovinzen erwarten von dieser NRe-
vision nichts Gutes. Die herrschende Strömung in Rußland drängt auf
Russifizierung dieser Provinzen und bedient sich dazu als MWerkzeug der
Letten, Esthen und Finnen, die in jeder Meise zur Unzufriedeuheit und
Begehrlichleit aufgestachelt werden. Wirlliche Gründe zur Unzufriedenheit
bestehen nicht. Im Grgenteil: die Bevoͤllerung dieser Provinzen hätte alle
Ursache, zufrieden zu sein. Das Land ist mäßig bevöllert, es mangelt noch
nicht am Raum zu landwirtschaftlicher Ausbreitung; es besitzt wenig In-
dustrie und daher leines der Leiden, welche mit dem industriellen Wesen
verbunden lind. Soweit die Verwaltung und IJusti# in den Handen der
deutschen Stände liegen, werden sie mit Gewissenhaftigkeit und“ besonders
mit ausgczeichneter Redlichleit, Unbestechlichkeit, Chrenhaftigkeit gehandhabt.
Das Unterrichlswesen ist musterhaft. Ein mittlerer Wohlstand ist allgemein
verbreitet; es gibt wenig große Vermögen und sehr wenig Bettler. Die
Arbeitslöhne sind hoch, erheblich höher als in Preußen oder dem benach-
barten Polen, von Rußland nicht zu reden. Die Entwickelung der ländlichen
Verhältnisse nimmt einen guten Verlauf; jährlich wächst der bäuerliche
Grundbesitz durch freien Kauf. über die Halfte der ehemaligen Pächter ist
in etwa 20 Jahren zu Eigentümern geworden. Kapital und Intelligenz
steigen in wunderbarer Weise beim Landvoll. Die eltwa 11½: Millionen
Letten und „Esthen sind vorzügliche Ackerbauer und haben überall ihre guten
Schulen. Sie haben ihre 16 oder mehr Zeitungen und fast jeder Hofbauer
liest und hält deren wenigstens eine. Die Abgaben laufen regelmaßig ein,
die Wege sind vorlrefflich Die öffentlichen Lasten werden von den Ständen
in gerechter Verteilung getragen. Der Adel bestenert sich zu gunsten des
gemeinen Weseu##s in erheblichem Maße. Während diese Provinzen zu
Junsten des Reichsschatzes höher bestenert sind als irgend eine andere Pro-
vin# des Reiches, fallen die Lasten für die Provinzialbedürfnisse in unver-
hällnismäßig hohem, Maße auf den privaten Vesitz, bejonders auf den
Großgrundbesiy. Die Summe. welche durch Selbstbesteuerung des Groß-
grundbesihes zu provinziellen Zwecken aufgebracht wird, beträgt etwa drei-
mal so viel als die Reichssteuern. Und dabei trägt der „rivate Großgrund=
besitz drei Biertel diejer Provinziallasten, während die Domänen, welche in
Kurland ein Drilteil, in Livland ein Viertel bis ein Fünftel des gesamten
Landes ausmachen, nur ein Viertel des Stenersatzes tragen, mit anderen
Worten: der private Groß grundbesitz zahlt vom Haken Landes in Livland
80 Rubel, der domäniale nur 20 Rubel. Ein großer Teil der im übrigen
Reiche durch teures und schlechtes Beamtenkum ausgeführten Arbeiten der
Regierung wird hier ohne Kosten des Staates in gewissenhafter Weise von
Adel und Bürger auf eigene Kosten geleistet. Keine Provinz Nußlands
wird so billig und zugleich so gut verwaltet als diese Provingen, und die
einzige, welche ihnen gleichtommt, ist Finnland mit seiner glücklichen Selb-
ständigkeit. Daß dieses Land in solch blühendem Zustande sich befindet, ist
das Mrdianst- des dortigen deutschen Adels und Bürgers. Allein das Bild
hat auch seine Nückseite und es muß ohne Rückhalt zugestanden werden, daß
Adel und Bürger der Oslseeprovinzen an den gegenwärtigen schweren übel-
ständen und Leiden nicht ohne Schuld sind. Viel Unrecht ist geschehen und
viele graufame Thaten sind begangen worden, als man im 12. und 13. Jahr-
hundert unter dem Vorwande die Heiden zu bekehren, sie unlerwarf und das
Land, ja die Eingeborenen selbst zum Eigentum der Eroberer machte. Aber
läßt sich eine Geschichte von mehr als einem halben Jahrtausend ohne die