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größle Gewaltthätigkeit und Ungerechtigkeit wieder rückgängig machen? Frei-
lich auch seither fällt auf den Adel der Ostseeprovinzen eine schwere Schuld.
1818 und 19 war in jenen Provinzen auf Befehl und Wunsch des Kaisers
Alexander die Leibeigenschaft aufgehoben worden, aber die Ritterschaft hatte
sich so vortellhaite, und für die Bauern so harte Bestimmungen ausguwirken
verstanden, daß sich das Los der Bauern nur wenig verbesserte. Namentlich
erhielten sie nicht den kleinsten Anteil an dem Lande ihrer Vorfahren, und
dieses unnatürliche Verhältnis dauerte noch ein Menschenalter lang. Seit-
dem aber hat sich in den baltischen Provinzen durch verständige Zugeständ=
nisse der Privilegierten an ihre bisher unterdrückten Mitbürger Vieles ge-
bessert und vom Bauernlande ist in Estland schon mehr als ein Drittel, in
Kurland fast zwei Drittel, in Livland beinahe drei Viertel Eigentum der
Bauern geworden, sodaß die bäuerlichen Besitzer eine Art VBormauer für die
Nittergutsbesitzer bilden. Wie in Irland, nachdem die Pächter durch das
Landgesetz so sehr begünstigt wurden, die Ansprüche der Tagelöhner sich zu
melden anfangen, zeigt sich in den OÖstseeprovinzen die ähnliche Erscheinung,
indem dort hinter den Banern auch die Besitzlosen austauchen und ihrerseits
einige Schollen Landes beanspruchen, da die Bauern mehr Land hätten als
sie bearbeiten könnten. Die Befreiung von Grund und Boden hatten Adel
und Bürger selber in den vierziger Jahren mit großer Aufopferung voll-
jogen; aber zu spät. Eine Generation früher hätle diese Maßregel genügt,
einen germanisierten Stand freier Vanern zu schaffen; so fiel in die Gährung
des neuen Zustandes die griechisch-kirchliche Propaganda Nikolaus' I. und die
nationale seines unglücklichen Sohnes; etwas Befestigtes hat sich dort nicht
mehr entwickeln können. Von dieser Grundlage aus müssen die baltischen
VBerhältnisse betrachtet werden. Immerhin, wie die Zustände jeht sind, läßt
sich der russische Ansturm gegen diesel ben durchaus nicht rechtfertigen. Was
die Ursache davon ist, daß man es für nötig hält, eine gute und geschulte,
billige und redliche Verwaltung durch russisches Beamtentum zu ersetzen,
kann man in der russischen Presse lesen: es ist die Besorgnis, daSß
Deutschland bei einem Kriege in jenen Provinzen Fuß fassen
werde.
6. Juni. Schluß des finnischen Landtags in schwedischer und
finnischer Sprache.
Die Resultate sind nicht sehr bedeutend. Der Gegensah zwischen der
national-finnischen und der schwedisch gesiunten Partei tritt wiederholt zu
Tage. Von den 4 Ständen gehören Adel und Bürgerstand vorzugsweise der
leyztteren, Geistliche und Bauern der ersteren an. Die projektierte Reform
der Gonvernementsvertretung wurde auf die nächste Session (in 3 Jahren)
verschoben: Das Projekt wurde unglücklicherweise nach schwedischem Muster
ausgearbeitet und darum von der finnisch gesinnten Kommission des Land-
tages verworfen. Der Gegensah trat noch ausgesprochener in der Schulfrage
hervor. Die finnische Partei, und darin liegt eine gewisse Bedentung, trug
den Sieg davon. Sie bezweck te die Errichtung von mehreren neuen finni-
schen MWaeen (Gymnasien). Der Vorschlag der schwedischen Partei, welcher
auf eine Reorganisation der Mittelschulen ausging, wurde bei heftiger Oppo-
sition des geistlichen und des Bauernstandes zrückgewiesen. In Bezug auf
die Presse, welche in dem sonst verhältnismäßig freien Finnland einer prä-
ventiven Zeusur unterliegt, hat sich der Landtag nach längerem Schwanken
entschlossen, der Regierung in Petersburg eine Petilion, welche um Preß-
freiheit ersucht, zu übersenden.
7. Juni. General Tschernajeff wird, an Stelle des verstor-