Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreiundzwanzigster Jahrgang. 1882. (23)

462 Rußlaud. (Juni 6 —7.) 
größle Gewaltthätigkeit und Ungerechtigkeit wieder rückgängig machen? Frei- 
lich auch seither fällt auf den Adel der Ostseeprovinzen eine schwere Schuld. 
1818 und 19 war in jenen Provinzen auf Befehl und Wunsch des Kaisers 
Alexander die Leibeigenschaft aufgehoben worden, aber die Ritterschaft hatte 
sich so vortellhaite, und für die Bauern so harte Bestimmungen ausguwirken 
verstanden, daß sich das Los der Bauern nur wenig verbesserte. Namentlich 
erhielten sie nicht den kleinsten Anteil an dem Lande ihrer Vorfahren, und 
dieses unnatürliche Verhältnis dauerte noch ein Menschenalter lang. Seit- 
dem aber hat sich in den baltischen Provinzen durch verständige Zugeständ= 
nisse der Privilegierten an ihre bisher unterdrückten Mitbürger Vieles ge- 
bessert und vom Bauernlande ist in Estland schon mehr als ein Drittel, in 
Kurland fast zwei Drittel, in Livland beinahe drei Viertel Eigentum der 
Bauern geworden, sodaß die bäuerlichen Besitzer eine Art VBormauer für die 
Nittergutsbesitzer bilden. Wie in Irland, nachdem die Pächter durch das 
Landgesetz so sehr begünstigt wurden, die Ansprüche der Tagelöhner sich zu 
melden anfangen, zeigt sich in den OÖstseeprovinzen die ähnliche Erscheinung, 
indem dort hinter den Banern auch die Besitzlosen austauchen und ihrerseits 
einige Schollen Landes beanspruchen, da die Bauern mehr Land hätten als 
sie bearbeiten könnten. Die Befreiung von Grund und Boden hatten Adel 
und Bürger selber in den vierziger Jahren mit großer Aufopferung voll- 
jogen; aber zu spät. Eine Generation früher hätle diese Maßregel genügt, 
einen germanisierten Stand freier Vanern zu schaffen; so fiel in die Gährung 
des neuen Zustandes die griechisch-kirchliche Propaganda Nikolaus' I. und die 
nationale seines unglücklichen Sohnes; etwas Befestigtes hat sich dort nicht 
mehr entwickeln können. Von dieser Grundlage aus müssen die baltischen 
VBerhältnisse betrachtet werden. Immerhin, wie die Zustände jeht sind, läßt 
sich der russische Ansturm gegen diesel ben durchaus nicht rechtfertigen. Was 
die Ursache davon ist, daß man es für nötig hält, eine gute und geschulte, 
billige und redliche Verwaltung durch russisches Beamtentum zu ersetzen, 
kann man in der russischen Presse lesen: es ist die Besorgnis, daSß 
Deutschland bei einem Kriege in jenen Provinzen Fuß fassen 
werde. 
6. Juni. Schluß des finnischen Landtags in schwedischer und 
finnischer Sprache. 
Die Resultate sind nicht sehr bedeutend. Der Gegensah zwischen der 
national-finnischen und der schwedisch gesiunten Partei tritt wiederholt zu 
Tage. Von den 4 Ständen gehören Adel und Bürgerstand vorzugsweise der 
leyztteren, Geistliche und Bauern der ersteren an. Die projektierte Reform 
der Gonvernementsvertretung wurde auf die nächste Session (in 3 Jahren) 
verschoben: Das Projekt wurde unglücklicherweise nach schwedischem Muster 
ausgearbeitet und darum von der finnisch gesinnten Kommission des Land- 
tages verworfen. Der Gegensah trat noch ausgesprochener in der Schulfrage 
hervor. Die finnische Partei, und darin liegt eine gewisse Bedentung, trug 
den Sieg davon. Sie bezweck te die Errichtung von mehreren neuen finni- 
schen MWaeen (Gymnasien). Der Vorschlag der schwedischen Partei, welcher 
auf eine Reorganisation der Mittelschulen ausging, wurde bei heftiger Oppo- 
sition des geistlichen und des Bauernstandes zrückgewiesen. In Bezug auf 
die Presse, welche in dem sonst verhältnismäßig freien Finnland einer prä- 
ventiven Zeusur unterliegt, hat sich der Landtag nach längerem Schwanken 
entschlossen, der Regierung in Petersburg eine Petilion, welche um Preß- 
freiheit ersucht, zu übersenden. 
7. Juni. General Tschernajeff wird, an Stelle des verstor-
	        
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