Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreiundzwanzigster Jahrgang. 1882. (23)

528 Ubersccht der politischen Entwichelung des Zahreo 1882. 
Votum der Kammer abhängig, ist es so auch vielfach in der Be- 
setzung von Stellen und in taufend Fällen der praktischen Verwal- 
tung. Das Listenskrutinium hätte wieder andere Nachteile, Nachteile 
für das Land, wenn auch Vorteile für die Parteihäupter; den ge- 
schilderten übelständen würde es wenigstens gutenteils ein Ende 
machen; die Kirchturmsinteressen würden zurück, die allgemeinen 
Landesinteressen in den Vordergrund treten. Die Regierung wäre 
dabei freier und stärker. Jede Nation wünscht und verlangt sich 
eine starke, unabhängige, zielbewußte Regierung, wenn auch selbst- 
verständlich beschränkt durch die Rechte und Befugnisse ihrer Volks- 
vertretung. Die republikanische Staatsreform fordert, zumal wenn 
es sich um eine große Nation mit mannigfaltigen und mächtigen 
Interessen handelt, eine starke Regierung vielleicht noch mehr als die 
Monarchie; jedenfalls ist die Gefahr größer, daß die Regierung, der 
die Initiative zusteht, diese nach und nach verliere und vom Parla- 
ment bald dahin bald dorthin gestoßen oder geschoben werde, na- 
mentlich wenn dieses keine festverbundene und festgegliederte Mehr- 
heit aufweist; denn das Parlament wird immer geneigt sein, seine 
Macht und seinen Einfluß auf Kosten der Regierung auszudehnen, 
unter Umständen bis zur Form des Konvents, wo die Sache dann 
freilich ins Gegenteil umschlägt. In Frankreich waren die Regie- 
rungen seit 1871 immer schwächer und schwächer geworden und 
Gambetta hatte dazu durch seine Nebenregierung und durch sein ge- 
legenlliches Liebängeln mit allen weiter nach links stehenden Par- 
teien selbst am meisten beigetragen; nicht minder aber auch die mehr 
passive als aktive Haltung des Präsidenten der Republik. Grévy 
herrscht nicht und regiert nicht: er begnügt sich, hie und da einen 
abwehrenden oder ermäßigenden Einfluß auszuüben, aber mit einem 
bestimmten und bestimmenden Willen ist er als Präsident noch nie 
hervorgetreten und die öffentliche Meinung ist nahe daran, ihn als 
nicht vorhanden zu betrachten oder doch lediglich als den Punkt auf 
dem J, der er sein will. Das mag sehr ehrenwert und könnte 
unter Umständen sehr angemessen und verdienstlich sein: den gegen- 
wärtigen Bedürfnissen Frankreichs entspricht es aber sehr wenig. 
Kein anderes Volk Europas will nach dem Zeugnis seiner Geschichte 
mehr regiert sein als das französische und keines war es seit einigen 
Jahren weniger. Gambetta erkannte das übel und darum setzte er 
die Stärkung der Regierung und ihrer Autorität auf sein Programm. 
Endlich wollte er durch Verstaatlichung der Eisenbahnen der über-
	        
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