Ubersichl der polililchen Eulwichelung des Jahres 1882. 515
seyt sich das Reich durch seine eigene Schwere tiefer und tiefer im
Sinne und Gemüte der Nation fest. Die Klage über Borussismus,
die man hie und da in Süddentschland hören kann, ist lächerlich;
so lange wenigstens Bismarck lebt, überschreitet er billige Schranken
nicht; der Partikularismus, wie er sich in Sachsen elwas breit macht,
ist doch sehr ungefährlich; selbst die Ullramontanen scheinen sich im
Reichstag, in Preußen und Vaden mehr oder weniger mit dem
Reiche ausgesöhnt zu haben und was sie bekämpfen, ist der moderne
Staat überhaupt, nicht das Reich an sich; nur die ultramonlane
Mehrheit der II. bayerischen Kammer hat noch im J. 1882 ihre
Abneigung gegen das Reich offen und unzweidentig an den Tag ge-
legt, aber zugleich in einer Weise, die deutlich erlennen ließ, daß
selbst sie jeden dahin zielenden Versuch für völlig aussichtslos er-
kennt. Das Reich stüctzt sich heute noch nicht allein auf die deutschen
Fürsten und ihre Negierungen, es ruht ebenso fest auf dem Wunsche
und Willen der Bevölkerungen.
Was in Deutschland allein unbefriedigend ist, sind die parla-
mentarischen Zustände und das Verhältnis zwischen dem Reichstag
und der Reichsregierung. Diese Seite des deutschen politischen Le-
bens ist wirklich unbefriedigend, wenn sie auch mehr Lärm macht,
als der wirklichen Bedentung entspricht, wie sie denn von denen,
die mitten in diesen Kämpfen stehen, und von der Presse, die davon
lebt, vielsach sehr übertrieben wird. Zuweilen, wie z. B. beim Tabak-
monopol, handelt es sich um große, entscheidende Fragen, aber nicht
selten sind es auch nur kleine, oft sogar recht kleinliche Streite-
reien. Die Schuld fällt nicht ausschließlich auf einen der beiden
Teile, sondern auf beide, und wenn man billig sein will, fast noch
mehr auf die Regierung und ihre Vertreter als auf das Parlament
und die Parteien in demselben. Der Mangel einer Partei, mit der
sich der Reichskanzler und sie mit ihm wenigstens über die allge-
meine Richtung der einzuhaltenden Politik und über die Grund-
linien der einzubringenden Vorlagen zum voraus verständigt hätte
und an die sich, vielleicht wechselnde, Elemente aus anderen anu-
schließen könnten, um eine Mehrheit zu erzielen; das System des
Reichskanzlers, seine Pläne gang selbständig zu entwerfen und aus-
zugestalten und an denselben festzuhalten, auch wenn es von vorne-
herein zweifelhaft und oft mehr als zweifelhaft ist, ob sie im Par-
lament durchgehen werden oder nicht, in der Hoffnung, bis zuletzt
werde er seine Anschauungen und seinen Willen doch durchsetzen;
Schullheos, Europ. Geschichtskalender. XNXNIII. Bd. 35