Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreiundzwanzigster Jahrgang. 1882. (23)

546 Ubersiht der polilischen Eulwichelung des Jahres 1882. 
sein daraus folgender und seit einigen Jahren beobachteter Grund- 
satz, die Mehrheit zu nehmen, wo er sie finde, endlich seine Begün- 
stigung der konservativ-ultramontanen Koalition im Reichstag wie 
im preußischen Landtag, wodurch er dem Radikalismus in neuester 
Zeit selbst eine Vedeutung verschafft hat, die er nicht haben sollte 
und an sich auch gar nicht hätte, — all das ist ganz wesentlich die 
Quelle, aus der jene unerquicklichen Zustände hervorgehen und fast 
mit mathematischer Notwendigkeit hervorgehen müssen. Der Reichs- 
kangler sucht nicht Fühlung mit dem Parlament, er erkennt in dem- 
selben nicht einen in einem gewissen Sinne und bis zu einem ge- 
wissen Punkte gleichberechtigten Faktor, er geht ziemlich unbekümmert 
um dasselbe seinen Weg; und da denn das Parlament ihm nicht un- 
bedingt zu willen ist, so sucht er seine Bedeutung möglichst herabzu- 
drücken, was den Gegensatz natürlich nur zu verschärfen und zu ver- 
bittern geeignet ist. Das ist nicht nur ein unerquicklicher, sondern auch 
ein ungesunder und auf die Dauer nicht haltbarer Zustand. Ohne 
die eminenten Verdienste, die der Neichskanzler um das Reich gehabt 
hat und fortwährend sich noch immer weiter erwirbt, im mindesten 
zu verkennen, und sodar zugegeben, daß die Ziele, die er sich gesetzt 
hat, im allgemeinen durchaus berechtigte feien, so darf man doch 
sagen, daß die Mittel, durch die er dieselben verfolgt und gewisser- 
maßen erzwingen will, es nicht auch immer sind, und daß er auf 
diesem Wege seine Absichten im innern nicht verwirklichen, sein Ziel 
nicht oder doch nur unvollständig erreichen wird, und selbst das um 
einen viel zu hohen Preis. · 
Einiges hat er allerdings erreicht. In ersler Linie bekämpft 
er die Ansicht, daß der Staat in wirtschaftlichen Dingen, in der 
eigentlichen Privatwirtschaft, gar nichts drein zu reden habe, daß er 
sich einfach auf die Aufrechthaltung der Rechtsordnung beschränken 
solle und daß auf diesem Gebiete alles der freien und absolut un- 
gehemmten Thätigkeit der Individuen überlassen bleiben müsse. Diese 
Anschauung ist nicht unpassend der Nachtwächterstaat genannt wor- 
den. Ihre Gegner nennen sie bald die Manchesterpartei, was schon 
nicht immer ganz zutreffend ist. bald die Partei der Freihändler 
schlechtweg, was ganz unbillig ist und der Sachlage nicht nur nicht 
entspricht, sondern sie verschiebt. Das Recht der Individuen auch 
in diesen Dingen ist allerdings kein unbedingtes, es wird vielmehr 
beschränkt durch das Recht und die Interessen der Gesamtheit, also 
des Staates; aber es ist in diesen Dingen das ursprüngliche, von
	        
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