Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreiundzwanzigster Jahrgang. 1882. (23)

558 Ubersicht der polilischen Eulwichelung des Jahres 1882. 
wußten Regierung ermangelte und außer stand war, eine solche 
aus den bestehenden Zuständen heraus zu bilden. Der Präsident 
der Nepublik stellt in Frankreich immerhin die Einheit des Staates 
dar, in dessen Person alle Linien und alle Kräfte des Staates als 
in ihrer Spitze oder in ihrem Mittelpunkte zusammenlaufen und 
sich konzentrieren und von der aus die konzentrierte Kraft wieder 
den ganzen Organismus zusammenhalten und durchdringen soll, 
im wesentlichen doch nicht viel anders als in der Monarchie vom 
Monarchen aus, wenn auch vielleicht in geringerem Grade und in 
etwas anderer Weise. Präsident Grevy stellt aber z. Z. keine Kraft 
dar: er ist lediglich der Punkt auf dem J und will auch gar nichts 
anderes mehr sein, keine lebendige Kraft, sondern gewissermassen 
bloß eine Art Schemen, eine Idee, keine Person von Fleisch und 
Blut, mit eigenem Willen begabt, thätig und handelnd, wenn auch 
selbstverständlich nur innerhalb gewisser Schranken. Die Folgen 
lagen alsbald greifbar auf der Hand. Eine starke Negierung, wie 
sie Gambetta im Auge hatte, statt an ihm, soausagen, ihre Seele 
zu finden und einc entschiedene Stütze zu haben, mußte ihn unaus- 
weislich mehr und mehr ganz in den Hintergrund drängen und fast 
verschwinden lassen, um sich thatsächlich an seine Stelle zu setzen. 
Eine schwächere Regierung, wie das Kabinet Freycinet, tastete und 
schwankte zwischen Wollen und Können hin und her und eine ganz 
schwache, wie diejenige, Duclerc's, förderte einen Zustand zu Tage, 
der mit Recht als geradezu „regierungslos“ bezeichnet wurde und 
von allen Seiten als solcher beklagt und für ganz unerträglich er- 
kannt wurde. Und wic bewährte sich unter diesen Umständen das 
Parlament? Nach dem Sturge Gambetta's und unter dem schwächeren 
Freycinet meinte die Kammer ihrerseits die Lücke ausfüllen zu können 
und machte wiederholt Anläufe, über ihre eigentliche Aufgabe hinaus, 
die Regierung oder wenigstens Teile der Regierung an sich zu reißen 
und mehr oder weniger selbst zu regieren. Der Versuch mißlang 
jedoch vollständig, sie brachte weder etwas Erhebliches und noch viel 
weniger etwas Dauerndes zu Stande und als sie, ohne eigentlich 
recht zu wissen, was sie that und was sie wollte, Freycinet gestürzt 
hatte, verfiel sie selbst mitsamt der Negierung in eine Schwäche, die, 
mindestens momentan, allen auflösenden Kräften freie Bahn ge- 
währte. Solche Vorgänge und Zustände sind sehr lehrreich. In 
Deutschland ist Ahnliches allerdings nicht wohl möglich, unter dem 
Fürsten Bismarck ganz und gar unmöglich; die Idee und die Tra-
	        
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