Ubersichl der polilischen Eulwickelung des Jahren 18982. 575
gänzlich aufgegeben. Die türkische Nasse zeigt viele schätzbare, ja
vortreffliche Eigenschaften, aber die höheren Klassen des Volks und
damit ihr ganzes Staatswesen sind verfault und verrottet und einer
wirklichen Regeneration nicht fähig. Japanesen und Chinesen scheinen
geistig im stande zu sein, die Resulkate der europäischen Kultur für
sich zu verarbeiten und bis zu einem gewissen Grade in sich aufzu-
nehmen, die Türken sind es offenbar nicht. Was sie seit fünfzig
Jahren von Guropa angenommen haben, war ein bloßer Firnis ohne
allen und jeden Wert, nur geeignet, ihre besten Eigenschaften vielmehr
zu verderben, als zu heben. Einer wirklichen Regeneration ist die
Türkei offenbar nicht jähig: sie wird unbedingt europäischer Kultur
und europäischer Herrschaft Platz machen müssen. Indes die Türken
sind eine kriegerische Rasse, der Islam wird dem Christentum nicht
ohne nachhaltigen Widerstand weichen und auch die Mächte werden
sich über die Teilung der Beute zum voraus niemals einigen. So-
bald daher nicht ihre speziellen Interessen und auf einem bestimmten
Punkte in Frage kommen, sind alle Mächte geneigt, zusammen zu
wirken, um eine Ratastrophe zu vermeiden. Die Auflösung der
Türkei wird daher Zzu einer allmäligen Abbröckelung. Im letzlen
Jahrzehent hat sie den größten Teil ihres Vesitzes in Europa ver-
loren, in den beiden ersten Jahren dieses Jahrzehnts ganz Nord-
afrika bis auf Tripolis, einen ziemlich wertlosen kleinen Rest. Der
Sultan selbst kann sich über das unabwendbare Schicksal keinen
Illusionen mehr hingeben und ist daher, nicht unverständiger Weise,
bemüht, sich an Deutschland und Hslerreich anzulehnen, die wenig-
steus aufrichtig bestrebt sind, den Gang der Dinge nach Kräften zu
verlangsamen und zu diesem Ende hin die ihm noch gebliebene
Widerstandskraft soweit möglich zu stärken. Zwei Dinge sind dafür
in erster Linie ganz unerläßlich, eine Ordnung der total zerrülteten
Finanzen und eine Reorganisalion der Armee nach europäischem
Muster. Zu diesen Zwecken überließ der deutsche Kaiser dem Sul-
tan einige tüchtige preußische Offiziere und einige gut geschulte preu-
Pische Verwaltungsbeamte, die es im Gegensatz gegen die Abenteurer,
welche aus aller Herren Ländern bisher nach der Türkei zogen, um
die dortige Fäulnis mit einem europäischen Anstrich zu überziehen
und dabei ihre eigenen Taschen gu füllen, auch zu einem gewissen
Erfolge bringen werden, wenn ihnen dagu die Zeit gelassen wird,
was man freilich nicht wissen kann. Am leichtesten und sichersten
dürfte ein Erfolg beim Militär zu erzielen sein, da das Material