Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreiundzwanzigster Jahrgang. 1882. (23)

übersichl der polilischen Enlwichelung des Jahres 1882. 570 
kann. Alerander lll. ist ein durchaus rechtlicher, wohlwollender 
Mann, der nur das beste seines Volkes will, aber offenbar nichts 
weniger als genial. Neue Schöpfungen aus der Tiefe seines eigenen 
und des russischen Volksgeistes sind von ihm durchaus nicht zu er- 
warten. Die einzige Neuerung in altrussischem Sinne war denn 
auch bisher lediglich das Wiederaufkommen altrussischer Tracht und 
Mode bei Hof und die Vertauschung der bisherigen mehr oder 
weniger preußischen mit einer altrussischen Uniformierung der Armee, 
hohen Pelzmüten und langen Stiefeln, worüber die Offiziere nichts 
weniger als entzückt sind, während die Soldaten sich mehr als 
Vauern, die sie sind, denn als Soldaten des Kaisers fühlen, die 
ganse Maßregel aber sich im Grunde doch als eine bloße Spielerei 
darstellt. Das Gleichgewicht der Kräfte und der dadurch erzengte 
Stillstand bezüglich der großen inneren Frage hatte inzwischen die 
natürliche Folge, daß der allgemeine Drang nach etwas Neuem, 
Großem sich auf den Panflavismus nach außen warf, der sich in 
den Reden des Tekünzen-Besiegers, General Skobeleff, durch den Aus- 
bruch eines unbändigen Hasses gegen Deutschland, das man doch 
nicht anzugreifen wagt, und einer unbändigen Lust, über Ssterreich 
hergufallen, wenn nicht Deutschland hinter ihm stände, Luft machte. 
Daneben sehten sich fortwährend die abschenlichsten Judenverfolg- 
ungen fort, die sich von einer Stadt nach der andern verpflanzten 
und natürlich Schuldige wie Unschuldige gleichmäßig trafen. Ig- 
natieff, der leitende Minister des Innern, sah allem ruhig zu und 
ließ alles zum mindesten gewähren, wofern er es nicht gar unter der 
Hand noch begünstigte, da es geeignet schien, die Massen zu beschäftigen 
und sie vom Nihilismus, den der Kaiser vor allem aus fürchtete, 
abzuziehen, bis es diesem selbst doch zu toll wurde. Der vielleicht be- 
schränkten, aber jedenfalls soliden Natur des Kaisers sagte es nach- 
gerade ganz und gar nicht zu, mit dem Feuer zu spielen, wie es Ig- 
natieff jederzeit liebte, der auch in den Mitteln, wenn sie nur zum 
Ziel zu führen schienen, nichts weniger als wählerisch war. Ver- 
nünftigerweise ist ein Krieg Rußlands gegen Deutschland und Öster- 
reich, zumal ohne einen vorliegenden, irgendwie zureichenden Grund, 
doch geradezu ein Ding der Unmöglichkeit und eine Allianz Frankreichs 
mit Rußland zu diesem Zwecke wäre für Frankreich und für Rußland 
selbst ein echtes, rechtes Abenteuer. Auf solche Spekulationen läßt 
sich der Kaiser doch nicht ein. Dazu kam, daß schließlich selbst Ig- 
natiff auf den Plan der Einberufung einer Art beratender Versamm- 
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