Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreiundzwanzigster Jahrgang. 1882. (23)

Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Jan. 30.) 20 
daß man somit diejenigen Privatbahnen, die ihrerseits zur Verstaatlichung 
bereit sind, nicht zwingen kann, einen Kampf fortzuführen, dem sie sich nicht 
gewachsen fühlen. Die Entscheidung im einzelnen Falle wird demnach ledig- 
lich davon abhängen, ob der von der Regierung angebotene Kaufpreis an- 
gemessen ist. Das Zentrum hat im Jahre 1879/80 fast einstimmig gegen 
den Ankauf der Privatbahnen gestimmt; aber nachdem die bei weitem größere 
Hälfte des preußischen Eisenbahnnetzes in der Hand des Staates vereinigt 
und es unmöglich ist, diese vollendete Tatsache rückgängig zu machen, trägt 
das Zentrum Bedenken, den beiden konservativen Fraktionen und den Nat.- 
Liberalen die Durchführung des Systems zu überlassen“ und angesichts der 
kirchenpolitischen Lage in der Opposition zu verharren. Für eine geschlossene 
unabhängige Majorität im Abgeordnetenhause wäre es eine außerordentlich 
wichtige und gar nicht unlösbare Aufgabe, der Verwirrung ein Ende zu 
machen, welche durch die Eisenbahn-Verstaatlichung in dem Etat entstanden 
ist, und, wie das im Jahre 1879 schon befürwortet wurde, die Eisenbahn- 
Verwaltung ganz und gar von dem Etat zu trennen, zugleich aber auch für 
eine normale Amortisation der Eisenbahnschuld Sorge zu tragen. Davon 
kann aber heute angesichts der kirchenpolitischen Lage kar keine Rede sein. 
Das Zentrum wird nur so lange Opposition machen, als es in der Kirchen- 
frage mit der Regierung nicht handelseinig ist, und daraus folgt, daß es 
bald nach rechts, bald nach links geht, sich alle Wege offen hält und da- 
durch jede grundsätzliche Verständigung über Steuer= und Finanzpolikik, so- 
bald dieselbe von der Regierung unabhängig ist, unmöglich macht. Ob ein 
neues Verwendungsgesetz gemacht wird, welcher Art der Steuererlaß sein 
soll, welche neuen Privatbahnen angekauft werden sollen, alles das bleibt 
dem Spiel der Kräfte überlassen, welche in der Kirchenfrage um die Herr- 
schaft ringen. Auch in anderer Beziehung wird in das Dunkel, in welches 
die Finanzpolitik der Regierung nach wie vor gehüllt ist., kein neues Licht 
gebracht. Der Finanzminister Bitter spricht von einer Reform der 
direkten Steuern; aber vom Abg. Rickert darüber gefragt, wie diese seine 
Anschauung mit dem offiziell im Reichstag verkündeten Programm des 
Kanzlers, die direkten Steuern so zu sagen ganz abzuschaffen, lediglich als 
eine „Anstandssteuer“ für die Reichen bestehen zu lassen und durch indirekte 
Steuern ganz zu ersetzen, sich in Einklang bringen lasse, weicht der Finanz- 
minister mit der Antwort aus, daß eine Entscheidung des Gesamtminis- 
teriums über die bereits ausgearbeiteten Reformgesetze betr. die direkten 
Steuern noch nicht vorliege. Auch Benda (nat.-lib.) dringt auf eine schleu- 
nige Reform der direkten Steuern und erklärt, er und seine Freunde wären 
mit der völligen Beseitigung der untern Klassensteuerstufen bis zu 900 Mark 
(aber nicht, wie der Reichskanzler will, bis zu 6.000 Mark) einverstanden. Er 
wäre mit einer Reform, welche in den höhern Stufen Kapital und Besitz 
höher besteuern als das Einkommen aus Arbeit. Eine solche Reform der 
direkten Steuern würde viel dazu beitragen, die jetzige unklare und precäre 
Lage der preußischen Finanzen, die auch schwer auf dem Reiche lastet, zu 
ordnen und zu sichern. Allein der Finanzminister Bitter setzt die Reform 
der direkten Steuern, die er geplant hat, gegenüber dem Reichskanzler nicht 
durch, da dieser gerade will, daß die gefährdete Lage der preuß. Finanzen 
auf das Reich drücke und ihm die Mittel in die Hand gebe, in diesem 
seinen großen Steuerreformplan durchzusetzen. 
30. Januar. (Preußen.) Der frühere Kultminister Dr. Falk 
wird zum Präsidenten des Oberlandesgerichts in Hamm ernannt 
und scheidet vorderhand aus dem politischen Leben aus, da er sein 
Landtags= und Reichstagsmandat niederlegen will.
	        
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