Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreiundzwanzigster Jahrgang. 1882. (23)

Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (März 3—4.) 59 
3 — 4. März. (Bayern.) II. Kammer: Gelegentlich einer 
Debatte über beanstandete Wahlen stürmt die Rechte gegen das 
Ministerium und die angebliche „Wahlkreisgeometrie“ desselben an 
und stellt der Abg. Kopp (ultr.) geradezu das Verlangen an die 
Minister, dem unzweifelhaften Willen der Mehrheit der Kammer 
zu weichen und freiwillig zurück zu treten. Ministerpräsident v. Lutz 
lehnt das Begehren rund ab. Rede des gemäßigten katholischen 
Abg. Bucher (der eben um seiner Mäßigung willen unter dem 
3. Januar förmlich von der Rechten ausgeschlossen worden war) für 
Verständigung mit dem Ministerium. 
Kopp (ultram.) stellt sich dabei ganz auf den Standpunkt nicht der 
deutschen konstitutionellen, sondern des englischen und französischen parla- 
mentarischen Systems. Gestützt darauf fordert er das Ministerium auf, 
zurückzutreten, in Beachtung des Prinzips, daß die Minister dem Verlangen 
der diametral entgegengesetzten Mehrheit des Landes sich fügen müssen, da 
nur sie und nicht die Krone für die Regierungshandlungen dem Parlamente 
verantwortlich seien. Das Ministerium, welches nicht das Recht habe, sich 
hinter die Krone zu verschanzen, möge dem Beispiele v. d. Pfordtens im 
Jahre 1859 und des Fürsten Hohenlohe im Jahre 1870 folgen und seine 
Entlassung nehmen oder an das Land appellieren und die Kammer auflösen. 
Die Rechte werde nicht über die verfassungs- mäßigen Stränge schlagen, aber 
fest wie das Zentrum in Preußen ausharren. Der Vorsitzende des Minister- 
rats Kultusminister Dr. v. Lutz entgegnet: Er vermöge eine Verpflichtung 
des Ministeriums zurückzutreten, die aus den verfassungsmäßigen Grund- 
sätzen hergeleitet wäre, nicht anzuerkennen. Eine solche Verpflichtung könnte 
sich höchstens aus den Grundsätzen des Parlamentarismus entwickelt haben, 
nicht aber aus dem Konstitutionalismus oder der Verfassung. Das bayerische 
Ministerium würde Unrecht tun, sich bei der Beurteilung seiner Befugnisse 
und derjenigen der Kammer nicht an die geschriebene Verfassung zu halten. 
Daß der Rücktritt v. d. Pfordtens und des Fürsten Hohenlohe auf konsti- 
tutionelle oder verfassungsmäßige Bestimmungen zurückzuführen, könne der 
Vorredner nicht nachweisen. Man könne indessen mit Recht die Entlassung 
eines Ministeriums verlangen, wenn gerechte Beschwerden gegen dasselbe er- 
hoben werden könnten, der Krone aber bleibe das Recht, zu prüfen, ob diese 
Beschwerden begründet sind oder nicht. Wenn wirklich durch den Rücktrilt 
des Redners und seiner Kollegen die Dissonanzen im Lande gehoben würden, 
wenn sie nicht vielmehr die Überzeugung hätten, daß diese  Dissonanzen nur 
in erhöhtem Maße eintreten würden, wäre er der Erste zu sagen: wir wollen 
gehen. „Aber gerade letztere Überzeugung ist der Grund, warum wir die 
Verantwortung dafür übernehmen, auf diesem Platze auszuharren.“ Bucher: 
Die Situation von heute und von damals ist verschieden, nach meiner über- 
zeugung wenigstens. Ich erinnere Sie an das Vermächtnis eines Mannes, 
den Sie hochgehalten und noch hochhalten, es ist dies Dr. Jörg, der Führer 
Ihrer Partei (Rufe rechts: Ihrer? hört!) Das werden Sie doch nicht be- 
streiten, daß  er Ihr Führer war! (Kopp ruft: Das hat Jörg selbst jederzeit 
bestritten!) Dann hat er es mit Unrecht bestritten. (Lachen rechts.) Herr 
Dr. Jörg sollte ja wieder als Kandidat aufgestellt werden, jedoch er hat es 
abgelehnt, aber trotzdem hat er Ihnen — und er ist ein geistvoller Mann— 
ein Vermächtnis hinterlassen in einer Rede, die er damals in Landshut ge- 
halten, in der Abschiedsrede an seine Wähler, und darin hat Dr. Jörg das
	        
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