Full text: Europäischer Geschichtskalender. Vierundzwanzigster Jahrgang. 1883. (24)

144 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Okt. 23—24.) 
Wiesbaden bricht der Tarifstreit zwischen den preuß. Staatsbahnen 
und den österr. und ungar. Bahnen aufs neue aus. 
Die Wiener „Neue Freie Presse“ spricht sich darüber folgendermaßen 
aus: „Die Berliner Vereinbarungen vom letzten Frühjahre, in welchen die 
österreichischen Eisenbahnen sich eigentlich dem Zwange der preußischen Eiser- 
bahntarifpolitik fügten, haben einen nur äußerlichen Friedenszustand ge- 
schaffen. In Wirklichkeit blieb der Gegensatz bestehen zwischen den von 
Berlin aus diktierten prohibitiven Eisenbahntarifen und dem Verkehrsbedürf- 
nisse der österreichisch- ungarischen Eisenbahnen, welches zu wohlfeilen Export- 
tarifen drängt. Die ungarischen Staatsbahnen machten auch schon in Berlin 
ihre Angehörigkrit zum Verbande davon abhängig, daß später ermäßigte 
Tarife, insbesondere für Getreide, Mehl und Wein, ab Ungarn vereinbart 
würden. Die preußischen Staatsbahnen  scheinen nunmehr diese Forderung 
definitiv abgelehnt zu haben, und es bleibt abzuwarten, wie sich die ungari- 
schen Staatsbahnen weiterhin gegenüber dem Verbande verhalten werden. 
Für die österreichischen Eisenbahnen ist diese Frage von höchster Wichtigkeit, 
denn es ist nicht zu verkennen, daß in Wien die Abneigung gegen die be- 
stehenden österreichisch-deutschen Tarifverhältnisse, welche die Aktionsfähigkeit 
der Eisenbahnen geradezu unterbinden, sichtlich wächst. Eine Berständigung 
der österreichischen Eisenbahnen in dieser Angelegenheit ist bisher nicht ange- 
bahnt worden. Allein es muß die Moglichkeit konstatiert werden, daß dies- 
mal von Ungarn aus eine Wendung in der seit den Berliner Bereinbarungen 
herrschenden Eisenbahntarifpolitik eintreten könnte.“ 
23. Oktober. (Deutsches Reich.) Der Kaiser kehrt von 
Baden-Baden wieder nach Berlin zurück. 
23. Oktober. (Deutsches Reich.) Im Reichstagswahlkreise 
Greifswald-Grimmen unterliegt der fortschrittliche Kandidat mit 
6247 Stimmen dem freikonservativen Graf Behr, der mit 7575 
Stimmen gewählt wird. Der letztere hatte sich diesmal rechtzeitig 
und unzweideutig gegen Erhöhung der Getreidezölle ausgesprochen. 
Der Freikonservative verdankt seine Wahl auch einer erheblichen An- 
zahl nationalliberaler Stimmen. Die Konservativen sind darüber sehr auf- 
gebracht und die „Kreuzztg." wirft den Freikonservativen vor, um der „national= 
liberalen Überläufer“ willen die Fahne der neuen Wirtschaftspolitik eingezogen 
zu haben. Das Verhältnis zwischen beiden Parteien ist augenblicklich über- 
haupt ein gereiztes, da fast gleichzeitig bei einer Landtagswahl in Flatow- 
Deutschkrone die Freikonservativen auch die vereinigten Konservativen und 
Ultramontanen aus dem Feld geschlagen haben. 
23. Oktober. (Elsaß-Lothringen.) Auf Grund der von 
der Optionskommission zu Straßburg abgegebenen Gutachten be- 
stimmt der Statthalter durch Erlaß, daß weitere 481 Perfonen 
— deren Namen die amtliche „Els.-Lothr. Zeitung“ veröffentlicht — 
als elsaß-lothringische Staatsangehörige nicht zu betrachten sind. 
24. Oktober. (Deutsches Reich.) Bundesrat: beschließt, den 
kleinen Belagerungszustand für Hamburg-Altona nebst Umgebung 
bis zum 30. September 1884, an welchem Tage das Sozialisten- 
gesetz vorläufig erlischt, zu verlängern.