172 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Dez. 22 21.)
wahlen geneigt. Das Aufsehen ist begreiflich. Zweifelhaft ist freilich, bis
zu welchem Grad diese Ankündigungen als Programm bevorstehender Regie-
rungsmaßregeln anzusehen sind, ob man wirklich vor so umwälzenden Plänen,
wie einer gründlichen Umgestaltung der Wahlsysteme im Reich und in Preußen,
in Staat und Gemeinde stehe.
22. Dezember. (Deutsches Reich.) Eröffnung der 54 km
langen Sekundärbahn von Wismar über Dobberan nach Rostock,
welche in einer Eutfernung von 3 bis 6 km längs der Östseeküste
hinläuft.
Die kleine Bahn hat strategisch eine eminente Bedeniung. Von der
außersten deutschen Grenzstadt im Norden, Haders leben, läuft jetzt über Apen-
rade, Fleusburg, Schleswig. Eckernforde. Eutin, Lübeck und Wismar nach
Rostock eine ununterbrochene Küstenbahn in der Entfernung von 2 bis 7 km
vom Meere. Die ca. 74 km lange Strecke von Rostock nach Stralsund ist
bisher noch ohne direkte Küstenbahn und die Benutzung einer Bahn zwischen
beiden Städten erfordert einen Umweg von ca. 80 km über Neu--Branden-
burg. Von Stralsund aus ist wieder eine Küstenbahn über Greifswald,
Stettin, Stolpe, Danzig, Königsberg, Justerburg nach Memel an der russi-
schen Grenze vorhanden. Um die empfindliche Lücke zwischen Rostock und
Stralsund auszufüllen, wünscht die preußische Regierung schon seit längerer
Zeit den Bau einer direkten Selundärbahn unweit der Küste über Nibnitz
und Dammgarten, hat aber die Erfüllung dieses Wunsches bisher umsoweniger
erreichen können, als der merkantile Verkehr zwischen diesen beiden alten
Hansestädten nur ziemlich unbedeutend ist und die Bahn schwerlich rentieren
dürfte. Indessen wird auch diese Bahn, da die Sicherheit der deutschen
Küsten gegen Landungen feindlicher Flotten von der größten Bedeutung ist,
unzweifelhaft in nicht zu langer Frist gebaut werden, so daß alsdann Ge-
schütze und Truppen von der russischen bie zur jütländischen Grenze ununter-
brochen eine Beförderung längs der Ostseeküste erhalten können.
24. Dezember. (Elsaß-Lothringen.) Der Statthalter und
die Regierung scheinen gegen die französisierenden Notabeln nach-
gerade doch eine andere Politik einschlagen zu wollen: der Sohn
eines sehr angesehenen Markircher Fabrikanten, Charles Blech jun.,
wird des Landes verwiesen.
Der junge Mann hatte seiner Zeit rechtsgültig für Frankreich optiert.
war aber vor mehreren Jahren in das Reichsland zurückgekehrt, wo er der
Fabrik seines Vaters vorstand, gleichzeitig aber in Paris wiederholt als
elsässischer Revanchepolitiker sich bemerklich gemacht hat. Die „Kreutzztg.“
bemerkt dazu, daß die Erwartungen des Statthalters von seiner Politik
gegenüber den sog. Notabeln sich nicht erfüllt hätten und daß mithin an die
Stelle der bisherigen Versöhnlichleit andere Grundsätze treten müßten. Die
Würde der Regierung erfordert es, die edle Aufgabe einer versöhnlichen
Mission Zunächst zurücktreten zu lassen Hinter die Pflicht, unberechtigten An-
maßungen und aufregenden Demonstrationen mit der Strenge des Gesetzes-
entgegenzutreten. Die Mittel dazu hat die Regierung in der Hand oder
wird sie vom Reiche, falls sie die Notwendigkeit nachweist, erhalten. Der
schädliche Einfluß der Notabeln kann sofort gebrochen werden, wenn die Vor-
stellung beseitigt wird, daß diesel ben Einfluß auf die Regierung haben. Die
Bevökterung gewöhnt sich sonst, in Jenen die Vertreter ihrer Interessen und
die eigentlichen Machthaber zu erblicken. Es war ein Grundfehler der deutschen