Full text: Europäischer Geschichtskalender. Fünfundzwanzigster Jahrgang. 1884. (25)

100 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Okt. 6—9.) 
Anwendung gebracht werden. Zweitens soll ein- für allemal eine feste Regel 
ausgesprochen werden, welche Formalitäten bei der Besitzergreifung afrikani- 
scher Gebiete durch eine europäische Macht zu beobachten seien. Der zweite 
Punkt unterliegt keiner großen Schwierigkeit und wird kaum zu langwierigen 
Debatten Veranlassung geben. Es handelt sich hier um die notwendige Aus- 
füllung einer klaffenden Lücke im modernen Völkerrechte, und niemand kann 
gegen einen so zeitgemäßen und praktischen Vorschlag ernstliche Einwendung er- 
heben. Der erste Punkt ist schon dadurch beachtenswert, daß Bismarck diesen 
ursprünglich von Stanley geforderten „Grundsatz seinerseits aufgenommen hat 
und sich dadurch zum erstenmal als Freihändler zeigt, da wo ihm der Frei- 
handel als das allein Richtige erscheint. Deutschland und Frankreich sind 
über ihre Haltung auf der Konferenz einig. Dieselbe ist, wie aus einem 
eben veröffentlichten französischen Gelbbuche hervorgeht, das gemeinsame Werk 
beider Staaten. Darin liegt die eigentliche Bedeutung der Konferenz. Der 
afrikanische Staaten--Embryo, der in Stanley und Brazza zwei lebendige 
Väter besitzt, hat an sich vorerst doch nur ein mäßiges Interesse; die That- 
sache aber, daß Deutschland und Frankreich in freundschaftlichem Vereine 
darangehen, eine internationale Frage zu ordnen, daß sie sich zuerst über 
alle Einzelheiten verständigen und dann erst die übrigen Mächte zu einer 
Beratung einladen, ist unter allen Umständen ein wichtiges Ereignis. Die 
Depeschen des Gelbbuches zeigen, daß der diplomatische Verkehr zwischen der 
deutschen und der französischen Regierung sich in den freundlichsten Formen 
bewegt. Fürst Bismarck erklärt gleich in seiner ersten Note, er wolle alle 
Rechte Frankreichs in West-Afrika achten, es sei gar nicht das Ziel feiner 
Politik, den Umfang der deutschen Besitzungen an den dortigen Küsten zu 
regeln, sondern er strebe nur danach, den deutschen Handel in Afrika zu 
sichern. Baron Courcel spricht dem Reichskanzler für dessen Loyalität ud 
guten Willen den ausdrücklichen Dank Jules Ferry's aus und schon am 
nächsten Tage gibt Bismarck seine Befriedigung über die erzielte Verstän- 
digung kund. Die Übereinstimmung zwischen Deutschland und Frankreich 
in der Kongo-Frage ist eine vollständige, und wenn sie sich auch nur auf ein 
fern in Afrika liegendes Gebiet bezieht, so liefert sie doch den Beweis, daß 
die beiden Mächte nicht mehr durch eine unausfüllbare Kluft getrennt sind, 
daß die nationalen Leidenschaften in Frankreich sich allmählich beruhigen. 
Okt. (Deutsches Reich.) Generalversammlung des 
Vereins für Sozialpolitik in Frankfurt a. M. Es haben sich dazu 
ca. 50 Mitglieder eingefunden unter dem Vorsitz des Prof. Nasse 
aus Bonn. Das erste und wichtigste Thema betrifft die Maßregeln 
der Gesetzgebung und Verwaltung zu Erhaltung des bäuerlichen 
Grundbesitzes im Anschluß an die Ergebnisse der Untersuchungen 
über die bäuerlichen Zustände der Gegenwart. Die Mehrheit der 
Versammlung spricht sich zu Gunsten des Anerbenrechtes aus. 
9. Okt. (Deutsches Reich.) Bundesrat: lehnt die Zu- 
stimmung zu der auf Antrag Windthorsts vom Reichstage beschlos- 
senen Resolution betr. Entschädigung der bisherigen Privatbeamten 
der Unfallversicherungsanstalten ab und versagt auch dem Entwurf 
eines Gesetzes betr. die Fürsorge für Witwen und Waisen von An- 
gehörigen des Heeres und der Marine in der durch die Beschlüsse 
des Reichstags angenommenen Fassung seine Zustimmung.
	        
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