Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Erster Jahrgang. 1885. (26)

10 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Jan. 10.) 
See vielleicht weniger stark als England, und es fürchtet sich doch nicht, 
seine Kolonien, die so weit entlegen sind, daß der Seeweg ihm an ver- 
schiedenen Stellen unterbunden werden kann, ruhig im Vertrauen auf sein 
Geschick, seine Tapferkeit und sein Ansehen, sowie auf die Gerechtigkeit und 
Friedensliebe anderer Staaten durchzuführen. Ich will indeß bei Frankreich 
gar nicht stehen bleiben; auch eine Seemacht wie die französische halte ich 
gar nicht für Deutschland indiziert. Aber sollte es wirklich für uns un- 
möglich sein, uns auf die Höhe von Portugal aufzuschwingen, von Holland, 
von Spanien, von Nordamerika, ja selbst von Rußland? Sollte Deutsch- 
land wirklich außer Stande sein, eine Seemacht zu halten, die allen übrigen 
Mächten außer England und Frankreich gegenüber die See halten kann, 
letzteren gegenüber sie auch halten wird nach dem Geiste, den ich in unseren 
Seeleuten kenne (Bravo! rechts), entweder über der See oder unter der See? 
(Erneutes Bravo.) Also das ist ja eine außerordentliche Übertreibung.“ — — — 
„Ich habe außer den Nachrichten, die ich Ihnen vorhin mitteilte, 
gerade an demselben Tage noch ein paar andere erhalten, von denen eine 
schon gedruckt ist, ein Telegramm aus Wellington: „Die Regierung von Neu- 
seeland hat den Antrag gestellt, die Samoainseln zu annektieren“ (hört! hört! 
rechts) — während wir bisher mit der englischen Regierung das still- 
schweigende, unausgesprochene Abkommen haben, daß keine der beiden Re- 
gierungen eine Veränderung des Status quo dort vornehmen soll ohne 
Zustimmung der anderen, und daß wir die Unabhängigkeit der Samoainseln 
erhalten wollen. „Ein Dampfer hält sich also in Neuseeland bereit, abzugehen, 
sobald die Entscheidung Lord Derbys eingetroffen sein wird.“ Eine andere 
Nachricht, die mir ebenfalls gestern zugegangen ist, und die in ihrem Lakonismus 
mir noch nicht vollständig verständlich ist, ist: daß die Eingeborenen in Neu- 
Guinea die dortigen deutschen Okkupationen hinausgeworfen haben. Das 
Telegramm hat nur fünf bis sechs Worte, ich kann mir das weiter noch 
nicht erklären. Es ist mir nur merkwürdig die Koinzidenz des Widerstandes 
der Eingeborenen gegen die deutsche Okkupation, die an den verschiedenen 
Küsten stattfindet. Auch in Samoa sind es die Eingeborenen, die diese 
Annexionen seitens der englischen Kolonien beantragt haben. 
„Kurz, wir sehen andere überall beim thätigen Handeln; während- 
dessen berufen wir Kommissionen und zitieren den Reichskanzler dorthin. Das 
kommt mir doch etwas vor wie der Hofkriegsrat in alten Zeiten in Wien.“ — 
„Meine Herren, ich habe für meine Kräfte heute genug geredet, ob- 
wohl mein Herz von dieser Sache voll genug ist; aber ich fürchte, ich möchte 
schließlich in Unmut übergehen, nachdem ich auch heute denselben Kommissions- 
sturm wieder wie gestern gehört habe. 
„Also ich kann Ihnen nur empfehlen: nehmen Sie diese Vorlage an, 
und entscheiden Sie sich damit für Beibehaltung und Befolgung der Kolonial- 
politik in dem Sinne, wie sie von den hanseatischen Pionieren unseres Han- 
dels begonnen und von der Regierung unter ihren Schutz genommen ist! 
Wenn sie die heutige kleine Position ablehnen, so nehme ich an, Sie haben 
Nein gesagt, und dann — fallen die Folgen auf Ihre Verantwortung, aber 
nicht auf meine.“ (Bravo! rechts und bei den Nationalliberalen.) 
In einer dritten Rede charakterisiert der Reichskanzler unsere Be- 
ziehungen zu England: „Dann möchte ich doch den Herrn Vorredner (Windt- 
horst) bitten, auch selbst einer so befreundeten Macht gegenüber, wie England, 
nicht in der leichten Weise von der Tribüne her den Frieden — ich will 
nicht sagen — zu stören, aber das Vertrauen auf den Frieden, indem er 
darauf hindeutet in dieser mehr oder weniger politischen Debatte, daß die 
Möglichkeit vorhanden sei, daß wir England einmal in Waffen gegenüber- 
stehen könnten. Diese Möglichkeit bestreite ich absolut, die liegt nicht vor, 
 
	        
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