94 NVes bentsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Juni 6.)
empfangen, und jene publizistischen Organe, in denen die Unterredungen mit
ihm veröffentlicht wurden, solchen Staaten angehören, die nicht zu den in-
timen Freunden des Deutschen Reiches zählen. Mehr als alles andere be-
weise dieser Umstand schon, daß man es nur mit den Aeußerungen des Privat-
mannes zu thun habe, welcher der aktuellen Reichspolitik vollständig entrückt
ist, und daß man der Notwendigkeit überhoben sei, noch des weiteren zu
versichern, daß, was immer Fürst Bismarck den Vertretern französischer und
russischer Journale gesagt haben möge, dies auf den Gang der offiziellen
Politik des Deutschen Reiches keinen wie immer beschaffenen Einfluß haben
könne. Diese an höchster Stelle erflossene Resolution hat auch in einem ver-
traulichen Rundschreiben Ausdruck gefunden, welches Herr v. Caprivi vor
einiger Zeit au die Vertreter des Reiches im Auslande gerichtet hat. Die-
selben wurden angewiesen, sich im Falle einer Anfrage in dem hier ange-
deuteten Sinne über die Kundgebungen des Fürsten Bismarck zu äußern.“
Dagegen äußern die „Hamb. Nachrichten“:
Wir halten diese Mitteilung für irrtümlich. Die maßgebenden Kreise
sind zu sehr beschäftigt, um die deutschen Botschafter und Gesandten bei den
fremden Regierungen zu beauftragen, Eröffnungen zu machen, die wegen
der Allbekanntheit und Selbstverständlichkeit ihres Inhaltes als vollständig
überflüssig, ja befremdlich befunden werden müßten. Außerdem ist nicht
wahrscheinlich, daß die diplomatischen Vertreter im Auslande in die Lage
kommen, Zweifel darüber zu zerstreuen, daß der ehemalige Reichskanzler nach
seiner Entlassung aus den Aemtern etwas anderes als Privatmann sei. Was
sollte er sonst sein? Da er aber zweifellos nur Privatmann ist, konnte er
auch den fremden Journalisten gegenüber sich selbstverständlich nur als solcher
äußern. Daß die Regierung eines großen Reiches es für nötig halten sollte,
ihre Vertreter im Auslande über solche Fragen zu instruieren, ist nicht an-
zunehmen ..ibt es Leute, deren Bestreben dem früheren Kanzler
gegenüber dahin gerichtet ist, diesem, nachdem er nichts als Privatmann ist,
jede Aussprache über Politik zu verbieten und ihm — wie ein bahyerisches
Blatt sich ausdrückt — seine Aeußerungen den fremden Journalisten gegen-
über als Landesverrat und Feindseligkeit gegen die Politik Sr. Majestät des
Kaisers auslegen, so entspringen diese krankhaften Bemühungen teilweise
schlechtem Gewissen, teilweise der Angst, daß der Mann, den sie hassen, irgend-
welchen Einfluß in der Politik gewinnen und üben könnte. In ihren Augen
ist es ein Unrecht, daß der Begründer des Deutschen Reiches überhaupt noch
lebt, und wenn er lebt, daß er nicht den Toten spielt. Eine gesetzliche oder
Anstandspflicht für ihn, letzteres zu thun, vermögen wir in der That nicht
zu erkennen, zumal er a Vertretung durch seine ehemaligen politischen
Freunde den Angriffen seiner Feinde gegenüber erfahrungsmäßig nicht zu
rechnen hat. Im übrigen haben wir ein Menschenalter hindurch die Er-
fahrung gemacht, daß sein Rat in unserer Politik richtiger war als der
lein, * wir halten an der Ueberzeugung fest, daß es auch noch heute
er Fall ist.“
6. Juni. (Abgeordnetenhaus.) Es wird die Resolution
der Sperrgesetzkommission beraten:
Die bestimmte Erwartung auszusprechen, daß die königl. Staats-
regierung ohne Verzug mit den geordneten Organen der evangelischen Landes-
kirchen zur Herbeiführung einer sachgemäßen Ordnung der Stolgehühren
ins Benehmen trete und die hierzu erforderlichen Mittel thunlichst schon
durch den nächsten Staatshaushaltsetat flüssig mache.
Die Resolution wird mit der vom Abg. Windthorst bean-