100 Jaos deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Juni 10.)
10. Juni. Der „Reichsanzeiger“ schreibt über die Ablehnung
der Sperrgeldervorlage:
Wohl niemand hat bei Einbringung der Vorlage einen solchen Aus-
gang vorausgesehen, und insbesondere ist die Staatsregierung mit sichererer
Erwartung auf ein glückliches Gelingen wohl kaum je an irgend eine An-
gelegenheit herangetreten. Denn mit der Vorlage war die Absicht verbunden,
der katholischen Kirche über eine unmittelbare Verpflichtung hinaus einen
neuen Beweis friedfertiger Gesinnung zu liefern und so auf dem Wege der
Versöhnung einen weiteren Schritt zu thun. Daß der Verwirklichung einer
solchen Absicht Hindernisse in den Weg gelegt werden könnten, zumal von
einer Partei, welche besonders die Interessen der katholischen Kirche wahr-
zunehmen sich berufen fühlt, lag außerhalb aller Berechnung.
Wenn trotzdem gerade von seiten dieser Partei der Vorlage gegenüber
eine ablehnende Haltung eingenommen wurde, so läßt sich dies wohl nur
auf ein bedauerliches Mißverständnis der friedfertigen Absichten der Staats-
regierung und auf ein Verkennen der Grenzen der Möglichkeit, innerhalb
deren sich diese Absichten verwirklichen lassen, zurückführen.
Die Staatsregierung hat von jeher den Wunsch gehabt, es möge als-
bald die Zeit kommen, wo die auf Grund des Gesetzes vom 22. April 1875
angesammelten Gelder zu Gunsten der katholischen Kirche verwandt werden
können. Dieser Zeitpunkt war, dank der Wiederherstellung eines vertrauens-
vollen Verhältnisses zwischen dem Staate und der katholischen Kirche, nun-
mehr gekommen. Damit war die Staatsregierung vor die Frage gestellt,
auf welche Weise ihre Absicht erfüllt werden könne. Die Beantwortung der
Frage ergab sich aus der Ueberzeugung, daß ein Recht im technischen Sinne,
sei es eines einzelnen Empfangsberechtigten, sei es eines einzelnen Geschädigten,
auf Entschädigung niemals bestanden hat und daß eine Ausführung der Re-
stitution an die sogenannten Empfangsberechtigten politisch, juristisch und
physisch unmöglich ist: es war und ist deshalb keine andere Art der Ver-
wirklichung des Gedankens, die Staatsgelder zu Gunsten der katholischen
Kirche zu verwenden, möglich, als die Ueberweisung eines jährlichen Renten-
betrags # der Summe der einbehaltenen Staatsgelder zu Gunsten der katho-
lischen Kirche.
sch Wenn dem gegenüber von seiten der Zentrumspartei des Hauses vor-
nehmlich der Anspruch auf Herauszahlung der Kapitalssumme erhoben und
mit Rechtsauffassungen begründet worden ist, welche die Staatsregierung sich
nicht anzueignen vermag, so hat der Gang der Verhandlungen bewiesen, daß
der von der Staatsregierung empfohlene Weg der einzige war, welcher gang-
bar gewesen wäre: denn sie hat auch auf die Anschauungen und Gefühle der
nicht zum Zentrum gehörigen Bevölkerung Rücksicht zu nehmen und zu ver-
meiden, daß auf evangelischer Seite das Gefühl der Zurücksetzung und Be-
einträchtigung ihrer Interessen schärfer hervortritt.
Auf der anderen Seite kann von einer durch die Vorlage erfolgten
Verletzung des katholischen Bewußtseins nicht die Rede sein. Denn That-
sache ist, daß der Peilige Stuhl erklärt hat, er würde gegen die Grundsätze,
auf denen die Vorlage beruht, „weder Widerspruch erheben noch Schwierig-
keiten machen". Es ist ferner bekannt und unwidersprochen geblieben, daß
der Bischof, das Generalvikariat und das Domkapitel einer Diözese sich zu
Gunsten der Annahme der Vorlage geäußert haben, und soweit bekannt, sind
auch Mitglieder der Zentrumspartei schließlich für die Annahme der Vor-
lage eingetreten.
Wenn trotzdem das Zentrum an seiner Auffassung und an seiner
Forderung festgehalten hat, so ist es begreiflich, daß die anderen Parteien,