Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Sechster Jahrgang. 1890. (31)

Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Juni 9.—11.) 101 
welche willens waren, für die Vorlage zu stimmen und somit auch ihrerseits 
das gegenüber der katholischen Kirche beabsichtigte Entgegenkommen zu be- 
thätigen, schließlich sich ablehnend verhielten: denn mit einer solchergestalt 
angenommenen Vorlage, welche die Zentrumspartei als mit dem Recht und 
den Interessen der katholischen Kirche im Widerspruch stehend bezeichnet hat 
und welcher die Zustimmung des Zentrums fehlte, wäre bei dem Einfluß 
der Partei in der katholischen Bevölkerung der friedliche Zweck der Vorlage 
schwerlich erreicht worden. 
Die Staatsregierung ist sich nach wie vor bewußt, das Gute auf dem 
einzig möglichen Wege gewollt zu haben. Wenn sie an der Erreichung dieses 
Zieles verhindert wurde, so darf man die Ursache hiervon in dem Nachhall 
der Stimmung erblicken, welche die früher zwischen dem Staate und der 
katholischen Kirche vorhandenen Differenzen auf katholischer Seite hervor- 
gerufen hatten und welche bei der Partei noch nicht gänzlich beseitigt zu sein 
scheint. Gleichwohl darf die Hoffnung ausgesprochen werden, daß dieser 
Zwischenfall die bestehenden friedlichen Verhältnisse in keiner Weise beein- 
trächtigen werde. Bei allseitigem guten Willen wird es zu erreichen sein, 
daß die früheren Stimmungen, aus denen heraus von Zeit zu Zeit noch 
hier und da Versuche der Verschärfung der Gegensätze gemacht werden, sich 
allmählich verlieren. 
9. u. 10. Juni. Nachdem Abg. Virchow die Legalität der 
Wahl des Dreizehnerausschusses angefochten, hält das Zentral- 
komitee der freisinnigen Partei unter dem Vorsitz Stauffen- 
bergs Sitzungen, um die innerhalb der Partei ausgebrochenen Zwi- 
stigkeiten beizulegen. Es wird beschlossen: 
Die Mitglieder des Dreizehner-Ausschusses zu ersuchen, eine ander- 
weitige Konstituierung vorzunehmen und unter der Voraussetzung der Wieder- 
wahl von Birchow und Bamberger im engeren Ausschusse die Wahl des 
Abg. Richter zum Vorsitzenden und des Abg. Schrader zum Stellvertreter 
herbeizuführen. Der Vorsitzende und der Stellvertreter im Ausschusse sollen 
* befugt sein, die Ausschüsse zu berufen und abwechselnd den Vorsitz 
zu führen. 
10. Juni. Der „Daily Telegraph“ berichtet über ein Inter- 
view des Fürsten Bismarck durch Herrn Kingston. 
Der Fürst erklärt, ihm habe es fern gelegen, den Staatssozialismus 
in Deutschland zur Geltung zu bringen. Er habe nur für die kranken oder 
verunglückten Arbeiter sorgen wollen. Der Gedanke, durch gesetzliche Maß- 
nahmen die Arbeiter zu zufriedenen Menschen machen zu wollen, sei ein 
Hirngespinst. 
Ueber die auswärtige Lage äußert er, der Kaiser sei ebenso friedlich 
gesinnt wie er selbst; doch sei es unmöglich, Frankreich durch eine Konzes- 
sion, Landabtretung entgegenzukommen; sie würde die Franzosen nur zu 
größeren Ansprüchen veranlassen. In Rußland sei das Volk, und besonders 
der Kaiser durchaus friedliebend. Der Dreibund sichere den Fortbestand des 
Friedens voraussichtlich für lange Zeit. Zwischen Deutschland und England 
würde auch die augenblickliche Rivalität in Afrika sicherlich nicht zu ernst- 
lichen Differenzen führen. 
11. Juni. (Reichstag.) Auf die Interpellation des 
Abg. Richter:
	        
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