102 Bas deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Juni 11.)
Wie denkt der Herr Reichskanzler über die Fortdauer der in den
letzten Jahren für Elsaß-Lothringen erlassenen besonderen Bestimmungen
in betreff der Paßpflicht und der Aufenthaltsbeschränkungen?
antwortet der Reichskanzler:
Was den Wunsch des Herrn Abg. Richter angeht, ich möchte mich
mit der Frage eingehend beschäftigen, so bin ich demselben zuvorgekommen.
Seit meinem Eintritt ins Amt hat diese Frage mich beschäftigt. Ich sehe
davon ab, die formale Vorfrage hier zu stellen, ob der Gegenstand hierher
oder nach Straßburg i. E. gehört. Ich kann es um so leichter, als ich mich
in Bezug auf die Behandlung der Frage in vollkommener Uebereinstimmung
mit dem Herrn Statthalter von Elsaß-Lothringen befinde.
Nachdem in den siebziger und im Anfang der achtziger Jahre eine
Reihe von Hochverratsprozessen gegen Spione bei deutschen Gerichten geführt
worden war, hat es sich zur Evidenz herausgestellt, daß die Reichslande von
einem Netz von Spionen umgeben waren, das trotz einiger glücklicher Griffe
und einiger erfolgreich geführter Prozesse zu vernichten nicht gelang. Die
Zahl der Franzosen, die sich in Elsaß-Lothringen aufhielten, wuchs fort-
während. Von etwa 15,000 im Jahre 1884 wuchs sie auf 19,000 im Jahre
1888, und darunter war eine überraschend starke Zahl von solchen Personen,
die, sei es als beurlaubt, noch aktiv der französischen Armee angehörten oder
der Territorial-Armee oder sonst in einem Verbande zur französischen Armee
gestanden hatten. Neben dieser militärischen Reberwachung der Reichslande
durch Personen, die dem Staat unseres westlichen Nachbarn angehörten, ging
eine andere Agitation, die ja in ihrer aller Gedächtnis noch lebhaft genug
vorhanden sein wird. Ich darf nur an die Patriotenliga erinnern. Gestützt
auf diese Thatsachen, über die eingehendes Material vorliegt, wurde die
Reichsregierung vor die Frage gestellt: Kann das im militärischen Interesse
so weiter gehen oder leidet die Sicherheit der Reichslande unter diesem Zu-
stande? Die Frage wurde von den kompetentesten militärischen Stellen be-
jaht: das Reichsland litt unter diesem Zustande, es mußten Maßnahmen
dagegen ergriffen werden. Der Reichskanzler trat in Verbindung mit der
nächstbeteiligten Regierung, mit der Regierung in Elsaß-Lothringen. Man
verhandelte hin und her, und keineswegs leichtsinnig ist der Entschluß gefaßt
worden, die Paßpflicht in Elsaß-Lothringen einzuführen. All die Bedenken,
die mit der Zeit erhoben worden sind, sind schon damals zur Sprache ge-
kommen. Trotzdem aber faßte man den Entschluß, den Paßzwang einzu-
führen. Es waren nicht diese Motive allein, die dahin führten, sondern es
lag noch ein anderes vor: ein Motiv, von dem es mir auffällt, daß der
Herr Abg. Richter es nicht genannt hat. Ich würde vielleicht mit Rücksicht
auf meine Stellung es nicht ganz so scharf formuliert haben, wie sein Partei-
genosse Herr v. Stauffenberg es in einer Sitzung im Jahre 1889 ausge-
sprochen hat: „Die Paßverordnung hat den Zweck gehabt, den wir alle mit-
einander billigen, und zwar im höchsten Grade, die Bande mit Frankreich
so weit wie möglich aufzuheben und die Germanisierung von Elsaß-Lothringen
zu beschleunigen.“ Es war eine Thatsache, daß, obwohl wir siebzehn Jahre
die Freude hatten, die Reichslande wieder deutsche nennen zu können, die
deutsche Gesinnung keinen Schritt vorwärts zu gehen schien. Man stand
vor der Frage: Was kann geschehen, um den Reichslanden das Deutschwerden
zu erleichtern? Ich glaube, in der Beziehung können die verbündeten Regie-
rungen und speziell die Regierung von Elsaß-Lothringen ein gutes Gewissen
haben; an mildem und wohlwollendem Entgegenkommen hat es nicht gefehlt.
Das Mittel hatte nicht gefruchtet; man mußte sich nach anderen umsehen,
und es blieb nur übrig, den Grenzgraben, der Elsaß-Lothringen von Frank-