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demokraten. Das Sozialistengesetz lief am 30. September 1890 ab;
dem Reichstag war eine Vorlage gemacht, das Gesetz unter einigen
Milderungen und Schaffung von Rechtsgarantien für die Aus-
führung dauernd zu machen. Sie stieß jedoch bei den National-
liberalen und Freikonservativen auf Widerstand. Besonders wollten
diese Parteien die Ausweisungsbefugnis der Regierung nicht auf
die Dauer oder überhaupt nicht mehr zugestehen. Um einen Kom-
promiß zu schließen, wartete man auf eine Meinungsäußerung des
Kanzlers. Solche aber erfolgte nicht, und so wurde das Gesetz
endlich vom Reichstag vollständig abgelehnt. (Vgl. 1889 S. 137 ff.
1890 25. Januar.) Weshalb der Reichskanzler die Sache bis zu
diesem Punkt kommen ließ, ob eine tiefere politische Absicht zu
Grunde lag, ob auch hier keine volle Harmonie mit den Ansichten
des Kaisers obwaltete, ist nicht bekannt geworden. Zunächst wich
der Kanzler ein Stück zurück. Er gab das bisher von ihm geleitete
preußische Handelsministerium an den bisherigen Oberpräsidenten
v. Berlepsch ab und es erschienen am 4. Februar die Kaiserlichen
Erlasse, welche die Inangriffnahme einer umfassenden Arbeiterschutz-
gesetzgebung auf Grund einer großen internationalen Konferenz ver-
kündigten. Aber im Hintergrunde schlummerten bereits weitere
Differenzen. Die neuen Reichstagswahlen warfen das Kartell, auf
das die Regierung sich die letzten Jahre gestützt hatte, in die Mi-
norität. Es mußten Beschlüsse gefaßt werden, wie man sich zu dem
neuen Reichstag stellen wolle. Auslassungen der „Norddeutschen
Allgemeinen Zeitung" (vgl. 24. Februar und 13. März) wiesen auf
eine Annäherung der Regierung an das Zentrum hin, weil sie mit
diesem in wirtschaftlichen Dingen harmoniere; der Reichskanzler
empfing den Abgeordneten Windthorst. Der Keiser stellte ihn hier-
über, wie nachher bekannt wurde, zur Rede, und es gab eine scharfe
Auseinandersetzung. (Vgl. oben, 23. und 24. März.) Den ent-
scheidenden Konflikt aber brachte endlich eine preußische Angelegen-
heit, die insofern eine allgemeine war, als in ihr die Entscheidung
lag, ob die Machtstellung, die der staatsmännische Begründer des
Deutschen Reiches allmählich erworben, ungeschmälert in seiner Hand
bleiben oder ob er sich einer Beschränkung unterwerfen wollte. Es
existierte eine Kabinetsordre Friedrich Wilhelms IV. vom 8. Sep-