52 FNas deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (März Ende —April 1.)
Ende März. Der Reichstagswahlkreis Hamm-Soest
wird bei der Nachwahl dem Zentrum, dem er zunächst zugefallen
war (Schorlemer-Alst) abgenommen und von den Nationalliberalen
gewonnen; desgleichen zwei Tage später der freisinnige Wahlkreis
Arnswalde-Friedberg durch die Konservativen; endlich der
freisinnige Wahlkreis Gießen durch die Antisemiten.
1. April. Der Geburtstag des Fürsten Bismarck wird
durch große Ovationen sowohl der Bevölkerung Lauenburgs, Ham-
burgs 2c. als auch durch eine unerhörte Anzahl von Telegrammen
und Geschenken Fernerwohnender begangen. Der Kaiser sendet durch
den Flügeladjutanten Grafen Wedel sein lebensgroßes Bildnis.
Viele Städte ernennen Bismarck zum Ehrenbürger.
1. April. Der „Reichsanzeiger" schließt eine Artikel-Serie
über Sozialismus und Sozialreform mit folgenden Sätzen:
Angesichts der hier charakterisierten Lage erkannte es Seine Majestät
der Kaiser und König für notwendig, den weiteren Beschwerden der wirt-
schaftlich leidenden Klassen auf den Grund zu gehen und für die als be-
rechtigt erscheinenden Forderungen, soweit sie bisher nicht genügend berück-
sichtigt waren, mit seiner königlichen Macht einzutreten. Die Frauen= und
Kinderarbeit, die Nacht= und Sonntagsarbeit bilden schon seit lange Stoff
für sozialdemokratische Agitationen — die Regelung dieser Fragen ist nun-
mehr vom Staatsrat und von der internationalen Arbeiterschutz-Konferenz
in Angriff genommen worden. Des Weiteren bleibt die Lohnfrage und die
Frage der Arbeitsdauer zu regeln übrig. Nach beiden Richtungen wird
vornehmlich von den Arbeitgebern selbst das Mögliche und Erforderliche ge-
schehen können. Die Wege dazu werden durch den Einfluß der ganzen sozial-
reformatorischen Richtung unserer Politik geebnet werden, wie auch die zu
schaffenden Organe, welche ein Fühlungnehmen zwischen Arbeitgebern und
Arbeitern ermöglichen, begründeten Beschwerden hoffentlich abzuhelfen ge-
eignet sein werden.
Die Fürsorge des Kaisers und Königs für den sogenannten vierten
Stand ist eine aus den Bedürfnissen der Zeit erwachsene. Es war von jeher
der Beruf der Hohenzollern-Könige, an die Heilung der sozialen Schäden
heranzutreten. Es mag sein, daß die wohlwollende Absicht von manchen
verkannt und die Begehrlichkeit gesteigert wird. Aber diese Möglichkeit lag
ebenso in früheren Zeiten vor, und sie ist in Preußen-Deutschland doch nie
zur Wirklichkeit geworden. Die Erwägung, daß die gute Saat auf unfrucht-
baren Boden fallen könne, hat einen preußischen König noch nie davor zu-
rückschrecken lassen, das zu thun, was ihm sein Gewissen und die Einsicht
in die Welt der Dinge gebietet.
Mit Schreckbildern, wie sie sich stets bei Reformen und bei Aende-
rungen des hergebrachten Zustandes eingestellt haben, kann die Aufgabe des
Staats, der gegenwärtig leidenden Klasse zu helfen, nicht hintertrieben werden.
Sie ist eine Notwendigkeit, welche einen starken und mächtigen Staat er-
fordert. Der Kaiser und König erkennt die Notwendigkeit gleich seinen er-
habenen Vorfahren an. Die in seiner Hand ruhende Macht des Staats
wird denen, welche für ihre ehrgeizigen und phantastischen Ziele hiebei etwas
zu gewinnen hoffen, entgegenzutreten wissen. Aber die Lösung der Aufgabe