Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Sechster Jahrgang. 1890. (31)

Mas beutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (April 1.) 53 
erfordert die ganze Mitwirkung der Gesellschaft und aller ihrer bewährten 
Lebensformen, der Kirche und der Schule, namentlich aber auch der be- 
stehenden, aus anderen Bedürfnissen hervorgegangenen politischen Parteien. 
Gegenüber dem Schrecken, mit welchem die Gesellschaft vor dem Sozialismus 
und den Ideen der Sozialdemokratie erfüllt wird und gegenüber den 
Gefahren, welche aus einem dem Sozialismus gegenüber beobachteten Laissez 
faire erwachsen würden, müssen die Parteien sich fest zusammenschließen, die 
Streitaxt begraben, die politischen Machtfragen ruhen lassen und sich um den 
Hüter aller Klassen der Gesellschaft, um den Träger der starken und mäch- 
tigen Krone scharen. 
Die Gesellschaft gleicht einer Wage in der Hand des Monarchen; er 
muß bald hier bald dort ein Gewicht Hinzufügen oder entfernen, um die 
Schwankungen zu beseitigen und so die Harmonie, wenn sie einmal gestört 
ist, wiederherzustellen. Nur das Königtum kann sich dieser Aufgabe unter- 
ziehen. Die Aufgabe des Parlaments besteht hiebei vornehmlich darin, daß 
es die Krone ihrer Aufgabe, den Frieden der Gesellschaft zu fördern, unter- 
stützt und sich uneigennützig als Mithelfer an dem Werk der ausgleichenden 
Gerechtigkeit und der Heilung der sozialen Schäden beteiligt. Geschieht 
dies, dann wird und muß die Sozialreform gelingen, dem Sozialismus aber 
der Boden unter den Füßen abgegraben werden.“ 
1. April. Die nationalliberale Fraktion des Abgeord- 
netenhauses richtet an den Fürsten Bismarck folgende Adresse: 
Durchlauchtigster Fürst! Seit langer Zeit hat das deutsche Volk und 
mit ihm die nationalliberale Fraktion des Abgeordnetenhauses die Wieder- 
kehr des Tages, der dem Vaterlande seinen großen Staatsmann gab, als 
einen Tag stolzer Freude gefeiert. Heute vermischen sich die Segenswünsche, 
mit denen wir Ew. Durchlaucht an Ihrem 75. Geburtstage begrüßen, mit 
dem schmerzlichen Gefühl, daß das Deutsche Reich und der preußische 
Staat in Zukunft des sicheren Führers entbehren soll, der der Nation seit 
mehr als einem Vierteljahrhundert zielbewußt die Bahnen vorgezeichnet, 
auf denen sich ihr heißes Sehnen nach Einheit und der gebührenden Macht- 
stellung und inneren Entwicklung erfüllte. Die Einigung Deutschlands unter 
Preußens Führung, die Wiederaufrichtung des Deutschen Reichs nach ohn- 
mächtiger Zersplitterung, die Festigung desselben durch die Organisation 
der Wehrkraft und der Finanzen und der innere Ausbau durch einheitliche 
Gestaltung des Rechts und mächtiger Verwaltungszweige, ein zwanzigjähriger, 
durch unvergleichliche Staatskunst aufrechterhaltener Friede, der den Wohl- 
stand des deutschen Volkes erhöhte und der Zusammenschluß der drei 
mächtigen Reiche Mitteleuropa's zu weiterer Friedenswahrung, der Erwerb 
von Kolonien, welche dem deutschen Handel und Gewerbefleiß neue Absatz- 
ebiete eröffnen werden, die soziale Reform zur Linderung der Not der ar- 
eitenden Klassen — das sind Hauptmarksteine des gewaltigen Teils Ge- 
schichte, welchen das deutsche Volk unter der Führung seines ersten großen 
Kaisers auf den durch Ew. Durchlaucht erkannten und eröffneten Wegen 
durchschritten hat. Unauslöschlicher Dank für alles, was Sie in tiefer Vater- 
landsliebe und unter Einsetzung Ihrer ganzen Persönlichkeit dem deutschen 
Volke gegeben, wird Ew. Durchlaucht aus allen Teilen des Deutschen Reichs 
wie von den Deutschen des Auslandes entgegengetragen. Wenn auch wir, 
die in tiefer Verehrung unterzeichneten Mitglieder der nationalliberalen 
Fraktion des Abgeordnetenhauses diesem Danke Ausdruck geben, so wollen 
w. Durchlaucht denselben entgegennehmen als ein Zeichen, wie sehr wir 
uns mit den Bestrebungen Ihrer nationalen Politik verwachsen fühlen.
	        
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