Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Sechster Jahrgang. 1890. (31)

84 Das beutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Mai 16.) 
aufschieben würde, wenn man nur die Sicherheit haben könnte, daß es nicht 
brennen würde. Je höher der Staat sich dadurch versichert, daß er ein zahl- 
reicheres Heer hält, um so geringer wird nicht bloß der Schaden sein, den 
der Zukunftskrieg ihm etwa zufügen kann, sondern um so unwahrscheinlicher 
*r znd das ist ein Vorteil vor anderen Versicherungen — wird der Krieg 
überhaupt. 
Also möchte ich, wenn die verbündeten Regierungen dazu kommen 
sollten, nach Ablauf dieser Periode in der nächsten oder in einer später fol- 
enden mit Entwürfen, die bis dahin gereift sind, vor Sie zu treten, vor- 
shhlogen, sich dieser Zahlen, die ich genannt habe, zu entsinnen und nicht zu 
erschrecken, wenn die Prozentzahl der Präsenzziffer 1 Proz. oder noch etwas 
mehr betragen sollte, als bisher. 
Nun liegt ja der Gedanke so nahe — und uns Aelteren ist er ja aus 
der Konfliktszeit noch ganz geläufig —, daß, wenn von der Erhöhung der 
Präsenzstärke gesprochen wird, sich unmittelbar dann die Forderung nach 
einer Reduktion der Dienstzeit anschließt, und ich kann sagen, ich habe mit 
Freude die Rede des Herrn Abg. Hänel insoweit gehört, als ich seine An- 
sicht vollkommen teile, daß zwei= und dreijährige Dienstzeit mit der Zeit zu 
parlamentarischen Stichwörtern geworden wären, die auch da angewendet 
würden, wo die einfache nüchterne militärtechnische Erwägung am Ort ge- 
wesen wäre. Es ist Thatsache, daß wir bei einem Teil unserer Armee die 
dreijährige Dienstzeit faktisch gar nicht haben. Sie aber prinzipiell aufzu- 
geben, würde ich nicht raten können. Wir wissen nicht, vor welchen tech- 
nischen Veränderungen wir in Bezug auf die Bewaffnung stehen. Es ist 
neulich hier der vollkommen zutreffende Vergleich gemacht worden zwischen 
einer Flinte und dem Gewehr M. 88; in dem Maße, als diese beiden Waffen 
voneinander verschieden sind, sind auch die Ansprüche, die an die Ausbildung 
des Soldaten gestellt werden, verschiedene. Als ich eintrat, schoß der In- 
fanterist — und ich bin so ausgebildet 18 Kugeln in einem Jahre gegen 
eine Scheibe von reichlicher Größe und wenn man das Geschoß abgefeuert 
hatte, so war nur die Frage: Hat das Gewehr sehr gestoßen oder nicht? Heut- 
zutage schießt man, wenn ich nicht irre, 150 Kugeln. Der Soldat muß 
gewisse Bedingungen erfüllen, er muß sich der Theorie des Schießens so Herr 
erweisen, daß er unter verschiedenen Lagen sich sagen kann, jetzt wird mein 
Geschoß die und die Flugbahn haben, wolglich muß ich so halten. 
Ich bitte um Enschuldigung, wenn ich als Reichskanzler in diese 
militärischen Details aus alter Neigung gekommen bin. Ich will aber nur 
sagen, die Schwierigkeiten, welche in der Ausbildung in den letzten Dezennien 
entstanden sind, sind kolossal, und nicht allein jeder Offizier wird Ihnen 
das sagen, ich behaupte, die Physiognomie von Berlin beweist das. Der 
spazierengehende Soldat ist an Wochentagen von der Straße verschwunden; 
an den Sonntagen können Sie vielleicht noch einen oder den andern sehen, 
und dann auch nicht mehr immer in so angenehmer Gesellschaft, weil ihm 
koinfan den Wochentagen die Möglichkeit gefehlt hat, Beziehungen anzu- 
nüpfen. 
Aber, meine Herren, ein anderes Moment, das ich gegen jede prin- 
zipielle Verkürzung der Dienstzeit von meinem ressortmäßigen Standpunkte 
aus anführen würde, liegt in der Schwierigkeit, die Truppe zur Disziplin 
zu erziehen. Wir werden alle darin einverstanden sein, daß eine Armee ohne 
Disziplin das Geld nicht wert ist, was sie kostet, daß man sogar noch etwas 
zugeben könnte, wenn man sie los wäre, denn sie wird eine Gefahr für den 
Staat. Eine Armee, deren Kraft ich nicht zur gegebenen Zeit an der gege- 
benen Stelle unter den denkbar schwierigsten Verhältnissen verwerten kann, 
ist mir nutzlos, und die Schwierigkeiten sind doch nicht unbedeutend. Wenn 
 
	        
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