Das Veische Reich und seine einzelnen Glieder. (April 30.) 93
ist, und daß sie darnach trachte, würdig zu werden dessen, was uns zu teil
geworden.“
30. April. (München.) Abg. v. Vollmar sagt in einer sozial-
demokratischen Versammlung in einer Rede über die projektierte
Maifeier:
Die Idee der Maifeier konzentriere sich in dem Denken an alles, was
man mit dem Sammelnamen „Arbeiterschutz“ begreife. Die betreffenden
Forderungen, die in den Resolutionen des Pariser internationalen Arbeiter-
Kongresses zusammengestellt seien, verlangten die Beseitigung der ärgsten
Ausschreitungen des Kapitalismus gegen die Arbeiter, die Hinderung wei-
terer leiblicher und geistiger Entartung des Volkes, Beseitigung der Kinder-
arbeit, der Nachtarbeit, der Sonntagsarbeit und vor allem die Einführung
des Achtstundenarbeitstages oder wenigstens landesgesetzliche Beschränkung
der Arbeitszeit. Die wichtigste Forderung sei unbedingt die Forderung des
Normalarbeitstages, der nach der Ansicht aller Sozialisten als eine wirt-
schaftliche, politische und kulturelle Notwendigkeit erscheine. Durch denselben
müsse einerseits die steuerlose wirtschaftliche Produktion und die Konkurrenz
der toten mit der lebendigen Arbeitskraft reguliert werden, andererseits
müsse dem Arbeiter so viel freie Zeit gelassen werden, daß er sich durch
Studium, Besuch von Vorträgen und Versammlungen für die öffentlichen
Angelegenheiten das nötige Verständnis aneigne, ohne welches die politischen
Rechte ihren Wert verlören. Erreicht aber könne eine gesetzliche Beschränkung
der Arbeitszeit in wirksamer Weise nur auf internationalem Wege werden;
der Kapitalismus und die Konkurrenz seien international, daher müsse es
auch die Arbeiterbewegung sein. In der gegenwärtigen Zeit, in welcher der
Friede stets bedroht erscheine, sei es gewiß am Platze, daß die Arbeiter durch
die Maifeier demonstrieren für eine allgemeine Menschenverbrüderung. Träumer
und Utopisten seien übrigens die Arbeiter nicht, und wer seinen Witz an
der Zukunftsstaatsträumerei versuche, verliere seine Zeit, gleichviel ob er
Eugen Richter heiße oder sonstwie. Unsinn sei es, die Sozialdemokraten für
die Handlungen der Anarchisten verantwortlich zu machen. Gerade die So-
zialdemokraten seien grundsätzlich die entschiedensten Gegner des Systems der
Anarchisten. „Wir halten das ganze Gedankengebäude der Anarchisten für
verkehrt und verurteilen ihre Handlungen auf das schärfste. Wir wollen
eine Entwicklung der Dinge auf ruhigem, friedlichem Wege, und wenn in
den letzten Tagen ein hervorragendes Organ unserer Partei geschrieben hat,
„daß unser Sieg, wenn er eines Tages kommt, der erste sein werde, den
keine Gräuel beflecken", so weiß ich, daß in diesem Saale keiner sich befindet,
der den darin ausgedrückten Wunsch nicht voll und ganz teilte.“ (Anhalten=
der Beifall.) Warum geschehen in Deutschland keine Attentate!? Weil die
deutsche Arbeiterschaft zielbewußt und organisiert sei und darum für die
Fehler der Gesellschaft nicht den einzelnen verantwortlich mache, sondern die
Gesellschaft selbst, und diese reformieren wolle. Die Maifeier sei eine gründ-
liche Mahnung an die Inhaber der staatlichen Gewalt zur Besserung der
Arbeiterverhältnisse, nicht minder sei sie auch eine Mahnung an die In-
haber wirtschaftlicher Macht, von ihren Vorrechten etwas abzutreten, wenn
sie nicht einen Weltbrand heraufbeschwören wollten. „Die Maifeier wird
für Denkende nicht eine Feier des Hasses, der Zwietracht, der Gewaltthat,
sondern ein imposanter zukunftsfroher Akt sein, ein Akt voll Hoffnungen
und Forderungen für die leidende und ringende Menschheit. In diesem
Sinne wird die Maifeier sein eine Vorbereitung und Siegesgewähr für die
kommende Lösung der großen Aufgabe, der wir unser ganzes Leben gewidmet