Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Achter Jahrgang. 1892. (33)

102 Das Neutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Juni 7.—13.) 
7. Juni. (Kiel.) Zusammenkunft zwischen dem Kaiser und 
dem Kaiser von Rußland. 
Die erste Begegnung der Monarchen findet auf der „Hohenzollern“ 
statt. Der Gegenbesuch des deutschen Kaisers auf dem „Polarstern"“, auf 
welchem Schiff der Zar von Kopenhagen gekommen. Um 7 Uhr abends 
findet im Königlichen Schlosse ein Diner von 60 Gedecken statt. Kaiser 
Wilhelm bringt auf seinen hohen Gast einen Toast aus, der lautet: 
„Ich trinke auf das Wohl des russischen Kaisers, den Ich von diesem 
Augenblicke an mit Allerhöchster Genehmigung als Admiral à la suite 
Meiner Marine führe. Es lebe der Zar!"“ 
Hierauf erhebt sich der Kaiser von Rußland, um den Trinkspruch in 
französischer Sprache zu beantworten. Er erwidert ungefähr: 
„Ich bin erfreut über diese Auszeichnung und den mir zu teil ge- 
wordenen Empfang und trinke auf das Wohl meines lieben Freundes und 
Vetters. Es lebe der Deutsche Kaiser und die Deutsche Marine.“ 
Abends 9 Uhr verläßt der russische Kaiser den Hafen von Kiel. 
„Es ist fast, als ob diese Begegnung gar nicht stattgefunden hätte, 
so gering stellt sich die Wirkung dar, welche das Ereignis geübt hat. Dieses 
maritime Schauspiel mit Kanonendonner und Feuerwerk, diese frostigen 
Trinksprüche bei dem Galadiner, dieser konventionelle Austausch von Artig- 
keiten mitsamt dem üblichen Ordensregen in der knappen Frist von zehn 
Stunden machen den Eindruck, als ob etwas Unumgängliches abgethan 
worden wäre, und es ändert sich nichts an diesem Eindrucke durch die Er- 
nennung des Zars zum Admiral à la suite der deutschen Marine. Nachdem 
der Zar volle einundzwanzig Monate hatte verstreichen lassen, bis er den 
letzten Besuch des deutschen Kaisers erwiderte, nachdem er zweimal große 
Strecken deutschen Landes passiert hatte, ohne das Bedürfnis einer Begeg- 
nung mit dem deutschen Kaiser zu empfinden, war die Kieler Fahrt das 
wenigste, wozu er höflichkeitshalber sich entschließen konnte, und das wenigste 
auch, was man bei solcher Gelegenheit haben kann, haben die beiden Kaiser 
einander in ihren Trinksprüchen gesagt. Da ist jeder Ton von Herzlichkeit 
geflissentlich vermieden, kein Wort deutet auf eine wärmere Temperatur, und 
wenn man den Dank des Zars für seine Ernennung zum deutschen Flotten- 
Admiral mit dem berühmten Toast auf den Fürsten von Montenegro oder 
mit dem denkwürdigen Telegramme an den Präsidenten Carnot vergleicht, 
so erkennt man mit Staunen, wie groß der Anteil der höfischen Etikette und 
wie gering derjenige des guten Willens an dem Entschlusse Alexanders III. 
war, den schuldigen Gegenbesuch bei dem deutschen Kaiser zu absolvieren.“ 
Die russische Presse über die Zusammenkunft vergleiche 
Rußland. 
9. Juni. (Berlin.) Die sozialdemokratischen Stadt- 
verordneten Sabor, Hähne und Tutzauer legen ihre Mandate als 
Stadtverordnete nieder, weil sie wegen ihrer Teilnahme an der 
Leichenfeier für den Oberbürgermeister von der Partei einen Ver- 
weis erhalten haben. 
10. Juni. Am Kilimandscharo findet bei Moschi ein Gefecht 
gegen Mandaras Sohn Meli statt, das für die Expedition v. Bülow 
unglücklich verläuft. 
13. Juni. (Dresden.) Parteitag der sächsischen Konserva- 
 
	        
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