Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Achter Jahrgang. 1892. (33)

Das Denisthe Reihh und seine einzelnen Glieder. (Juli 31.) 127 
Verfassung. Ein Krieg, auch ein siegreicher, hat für die Nation keine 
wohlthuenden Folgen. Wir haben uns seit 1870 angelegen sein lassen, 
weitere Kriege zu vermeiden, vor allem dem neuen Deutschen Reiche den 
Frieden zu erhalten, weil der innere Ausbau unsre Thätigkeit voll in 
Anspruch nahm, ja sogar eine gewisse diktatorische Thätigkeit verlangt 
v die ich als dauernde Institution eines großen Reiches nicht betrachten 
möchte. 
Wir haben unsre ganze Aufmerksamkeit im Innern der Konsoli- 
dierung der Reichseinrichtungen zugewendet, in dem Sinne, daß alle Deut- 
schen in ihnen sich wohlbefinden sollten, daß die Reichseinrichtungen ihnen 
wohlgefallen sollten, als ein Besitztum, das zu verteidigen und zu vertreten 
sie alle bereit sein würden. (Lebhafter Beifall.) Fertig ist die Aufgabe 
vielleicht noch nicht. Aber sie kann nur fertig werden, wenn wir ein starkes 
Parlament als Brennpunkt des nationalen Einheitsgefühls haben. (Beifall.) 
Ein Parlament kann nicht stark sein, wenn es von Parteien zerrissen ist. 
Es wird dann in der Hand jedes einzelnen stehen, aus den Fraktionen 
und Fraktiönchen diejenigen herauszupflücken, deren Ueberzeugung und 
Votum für irgendwelche Fraktionsvorteile zu haben ist, und das ist das 
Unglück, wenn wir in das Fraktionswettkriechen, in den Fraktionshandel 
— do ut des-Tendenz — verfallen. Ohne einen Reichstag, der vermöge 
einer konstanten Majorität, die er in seinem Schoße birgt, im stande ist, 
die Pflicht einer Volksvertretung dahin zu erfüllen, daß sie die Regierung 
kritisiert, kontrolliert, warnt, unter Umständen führt, der im stande ist, 
dasjenige Gleichgewicht zu verwirklichen, was unfre Verfassung zwischen 
Regierung und Volksvertretung hat schaffen wollen, ohne einen solchen 
Reichstag bin ich in Sorge für die Dauer und für die Solidität unfrer 
nationalen Institutionen. (Lebhafter Beifall.) Wir können heutzutage nicht 
mehr einer rein dynastischen Politik leben, wir müssen nationale Politik 
treiben, wenn wir bestehen wollen. Es ist das das Ergebnis der politischen 
Entwickelung, die in dem letzten halben Jahrhundert in Europa statt- 
gefunden hat. Um nationale Politik treiben zu können, müssen wir aber 
eine nationale Volksvertretung haben, die in erster Linie die Bedürfnisse 
und Wünsche der Nation zu berücksichtigen hat. Wir können nicht regiert 
werden unter der Leitung einer einzelnen der bestehenden Fraktionen, am 
allerwenigsten unter der des Zentrums. (Lebhafter Beifall.) Ich glaube, 
daß selbst unfre katholischen Landsleute in ihrer Mehrzahl das Bedürfnis 
haben, unabhängig von der Doktrin der Zentrumsleitung in Berlin regiert 
zu werden. Ich glaube, daß wir mit unsern katholischen Fragen leichter 
fertig werden würden, wenn wir mit der römischen Kurie durch Ver- 
mittelung eines Nuntius in Berlin zu verhandeln hätten, als wenn die 
Stelle des Nuntius die Beeinflussung des Papstes durch das Zentrum ein- 
genommen hätte. 
Ich halte das letztere für gefährlicher für unfre nationalen Ziele, 
als uns ein Nuntius sein könnte. Ich will damit nicht die Berufung eines 
Nuntius befürworten. Ich sage diese Worte nur als Ausdruck des Urteils, 
das io über die heutige Leitung des Zentrums mit mir herumtrage. Ich 
halte sie für gefährlich, nicht bloß in konfessionellen Fragen, sondern haupt- 
sächlich in nationalen Fragen. Sie bröckelt uns alles ab, was wir im 
Osten unsrer Grenzen in Polen germanisch angebaut haben und anbauen 
haben wollen. Den ganzen Kulturkampf konnten wir entbehren, wenn die 
polnische Frage nicht daran hing. Sie hing daran. Damals in der Frage 
der sogenannten katholischen Abteilung hatten wir den fremden Nuntius 
nicht als fremden Diplomaten, sondern inmitten des preußischen Ministeriums 
— eine Abteilung, die ursprünglich gestiftet war, die Rechte des Königs
	        
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