Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Achter Jahrgang. 1892. (33)

148 Nas Venuische Reich und seine einzelnen Slieder. (November 4.) 
französischer Legitimist und als solcher hatte er ein lebhaftes Interesse, dem 
legitimen monarchischen Rußland gefällig zu sein und bei seinen Lands- 
leuten den Schein zu erwecken, nur ein Legitimist habe die bisherige abge- 
neigte Zurückhaltung des Zaren gegen das republikanische Frankreich über- 
winden und Rußland zum Vermittler des von den Franzosen damals so 
hochgeschätzten Friedens machen können. Herr v. Gontaut-Biron reiste also 
im thunlichsten Inkognito nach St. Petersburg, um Gortschakow zu einer 
mise en scène für den Frieden Gelegenheit zu geben, die dann auch recht 
fadenscheinig aufgeführt wurde. Ich beschwerte mich bei meiner ersten Zu- 
sammenkunft mit dem Zaren — die nach meinen Aufzeichnungen in meinen 
Erinnerungen am 10. Mai stattfand — über die Unredlichkeit von Gort- 
schakow, der genau wisse, daß ich gar nicht an Krieg denke, und sich so 
aufspiele, als danke Europa ihm allein die Aufrechterhaltung des Friedens. 
„Mais vous savez bien, qu’il est fou de vanité“, antwortete mir der Zar. 
Nach dieser Unterredung erließ dann Gortschakow ein Rundschreiben an 
sämtliche diplomatische Vertreter Rußlands, in dem es hieß: „Maintenant 
la paix est assurée“ — Jetzt ist der Frieden gesichert — „man hat sich 
von der Notwendigkeit seiner Aufrechterhaltung überzeugen lassen“" — mit 
dem „man“ war natürlich ich gemeint. 
„Selbstverständlich wird in der „Deutschen Revue“ auch der bekannte 
„Krieg-in-Sicht“-Artikel in der „Post“ meiner Anregung zugeschrieben und 
behauptet, dessen mutmaßlicher Verfasser, Herr Dr. Konstantin Rößler, sei 
damals Chef des „Preßbureaus“ gewesen, während derselbe damals ganz 
einfacher Preß-Condottiere war und ich den Artikel sofort entschieden des- 
avonieren ließ. 
„Auch die ungeschickten und gröblichen Noten, welche damals von 
Berlin ausgingen — keine einzige dürfte meine Unterschrift tragen — 
werden mir mit großem Unrecht auf meine Rechnung gesetzt. Ich war für 
den Verfasser nicht einmal als Chef verantwortlich, da das bekannte Stell- 
vertretungsgesetz — erlassen, um mich im Kulturkampf, der meine ganze 
Kraft absorbierte, zu entlasten — die Herren ziemlich selbständig gemacht 
hatte. Ich für meine Person bin an höfliche Formen von Jugend auf 
gewohnt und habe sie nie verletzt. Aber das Stellvertretungsgesetz hat die 
internationale Höflichkeit entschieden auf eine tiefere Stufe gebracht. Denn 
der eine der Herren war von Natur-, Gemütsanlage und Erziehung sehr 
grob, der andere aus Faulheit. · 
„Ich sagte schon, daß ich das Vertrauen des Zaren Alexander des 
Zweiten bis an sein Lebensende in unbeschränktem Maße genoß, und das 
vornehmlich führte auch Rußland jahrelang unerschütterlich mit den zwei 
anderen Reichen, Deutschland und Oesterreich-Ungarn, zu dem Dreikaiser- 
bündnis zusammen. Ich stellte den drei hohen Herren bei ihren Zusammen- 
künften jedesmal mit Erfolg vor, daß sie im monarchischen Interesse gegen 
die Revolution unendlich viel mehr Gemeinsames zu verteidigen hätten, als 
sie getrennt durch Einzeleroberungen gewinnen könnten. Ich hielt diese 
Verbindung für eine von Natur und aus Naturnotwendigkeit eigentlich 
noch festere, als den jetzigen Dreibund, der freilich auch nur gegen den 
Willen und gegen die Einsicht der politisch Urteilsfähigen in den drei ver- 
bundenen Völkern gelöst werden könnte. Aber immerhin ist ja leider die 
Befürchtung nicht ausgeschlossen, daß, wenn Frankreich einmal mit der 
roten Fahne gegen Deutschland heranrückte, es noch mehr Freunde dieser 
roten Fahne bei uns finden könnte, als vor hundert Jahren bei uns 
Freunde der über unfre Grenzen schwebenden dreifarbigen französischen 
Fahne sich meldeten. Und was Italien anlangt, so ist eigentlich nur 
Savoyen streng monarchisch gesinnt, im Norden liebäugelt man vielfach mit
	        
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