Rußland. (Juni 7.) 299
bundes auferlegt wurde, nicht im Einklange gestanden wäre. Dazu kam
die Erwägung, daß ein rasch erfolgter Gegenbesuch des Zaren möglicher-
weise den Kaiser Wilhelm II. zu einer Wiederholung seines Besuchs ver-
anlaßt haben würde, was wieder dem Zaren die Pflicht eines abermaligen
Gegenbesuches auferlegt hötte. Es leuchtet ein, daß ein derartiger, sich in
verhältnismäßig kurzen Intervallen vollziehender Austausch von Höflich-
keiten, die einen vielfachen persönlichen Verkehr der beiden Monarchen herbei-
geführt hätten, mit dem wahren Stande der Dinge in Europa in einem
gewissen Widerspruche sich befinden würde und dadurch ein verwirrendes
Element in die internationale Situation gebracht hätte. In Frankreich
hätten die wiederholten Begegnungen zwischen dem Kaiser Alexander III.
und Kaiser Wilhelm II. ein sehr begreifliches Mißtrauen gegenüber den
Absichten Rußlands zur unausbleiblichen Folge gehabt, und auf diese Weise
das Zustandekommen des russisch-französischen Einvernehmens durchkreuzt,
dessen Herstellung der Zar für die Aufrechterhaltung des europäischen Gleich-
gewichts und daher des allgemeinen Friedens erforderlich erachtete. Da
nun der Zar dieses Einvernehmen wünschte und da er überhaupt seinem
ganzen Charakter nach in allen Dingen Klarheit und Bestimmtheit ver-
langt, ergab sich für ihn damals die Notwendigkeit, den Gegenbesuch, der
durch seine Nachwirkungen ein Element der Unklarheit in die Lage gebracht
hätte, bis zu einem etwas entfernteren Zeitpunkte zu vertagen.
Im Sommer des Jahres 1891, zu welcher Zeit man den Besuch
des Kaisers Alexander III. in Berlin zu erwarten schien, stellte sich der
Besuch der französischen Flotte in Kronstadt hindernd in den Weg. Der
Zar war durch dieses Ereignis in seiner Hauptstadt festgehalten und über-
dies hätte eine Begegnung des Zaren mit dem deutschen Kaiser, sei es un-
mittelbar oder bald nach dem Erscheinen des französischen Geschwaders in
Kronstadt, leicht die Auslegung erfahren können, daß der russische Herrscher
die Bedeutung dieser feierlichen Manifestation der Annäherung zwischen
Rußland und Frankreich einigermaßen abzuschwächen wünsche, eine Inter-
pretation, die den Eindruck der Ereignisse von Kronstadt wesentlich be-
einträchtigt haben würde. Als einige Zeit nachher die Abstattung des
Gegenbesuchs ernstlich in Erwägung gezogen wurde, waren es wiederholte
Trauerfälle in der Kaiserlichen Familie, welche einen neuerlichen Aufschub
herbeiführten.
Gegenwärtig, wo die internationale Stellung Rußlands mit aller
Klarheit und Bestimmtheit definiert ist, so daß die Zumutung, als ob Ruß-
land von seiner jetzigen Bahn unter Umständen abirren könnte, ausgeschlossen
erscheint, konnte gegen ein Zusammentreffen des Zaren mit dem deutschen
Kaiser kein Bedenken mehr obwalten. Der Besuch Alezander III, in Kiel
ist nicht geeignet, in Frankreich Empfindlichkeiten zu wecken und ebenso
wenig in Deutschland irrige Folgerungen herbeizuführen. Unter den jetzigen
Umständen kann diese Monarchenbegegnung von aller Welt nur als ein
willkommenes Symptom der aufrichtigen Friedensliebe des Zaren aufgefaßt
werden. Der Zar benützte hierfür den geeigneten Moment und er vollzog
den Besuch in Formen, aus welchen hervorgeht, daß Rußland mit allen
friedliebenden Staaten in Frieden zu leben wünscht, ohne daß es aber bereit
wäre, irgend eine Transaktion einzugehen, durch welche auch nur das ge-
ringste seiner Interessen oder seine nationale Würde oder seine volle poli-
tische Aktionsfreiheit irgendwie eine Beeinträchtigung erleiden könnte.
Der „Grashdanin“ sagt über diese Zusammenkunft: Man brauche
nicht in die Geheimnisse der Diplomatie eingeweiht zu sein, um die Wich-
tigkeit dieses Ereignisses darin zu sehen, daß es eine Stütze für die Dauer
des allgemeinen Friedens darstelle, dessen alle bedürfen. Das Blatt fährt