Nebersicht der politischen Entwichelung des Jahres 1892. 327
„Frankreich wieder das linke Rheinufer gehöre, die nächsten Nach-
barn unter seine Hegemonie kommen, Süddeutschland wieder ein
selbständiges Leben erhalte, man aber auch Rußland helfe an den
Ufern der Donau und am Bosporus“.
Seit sechs Jahren befindet sich Europa in dieser Situation.
Die russischen und französischen Staatsmänner finden weder den
Entschluß, die Entscheidung herbeizuführen und den Krieg zu er-
klären, noch den Weg, sich aus ihrer Verstrickung zu lösen und
andere politische Ziele aufzustecken. Niemand kann wissen, wann
und in welcher Art die Lösung dieser Spannung sich einmal voll-
ziehen wird. Es ist selbst schwer zu sagen, wem die Hinausschiebung
günstiger ist. Ist auf der einen Seite Rußland vermöge seiner
unerschöpflichen Menschenmassen in der Lage, seine Rüstungen in
noch weit höherem Maße zu steigern als Deutschland, hat es in
Eisenbahn= und Festungsbauten noch unendlich viel mehr zu thun,
als wir, so sind doch jene beiden, Frankreich und Rußland im
Innern viel eher großen Erschütterungen ausgesetzt als die Drei-
bundstaaten, und es ist nicht unmöglich, wenn auch nicht gerade
wahrscheinlich, daß durch solche innere Umwälzungen uns der Krieg
doch noch völlig erspart werden kann. Durchaus mit Recht hat
daher die deutsche Regierung unter dem jetzigen Reichskanzler wie
unter dem Fürsten Bismarck auf jeden Gedanken eines Präventiv-
krieges verzichtet und sucht nur durch äußerste Anspannung der
Rüstungen sich in jeder Beziehung in Bereitschaft zu setzen und
zugleich durch den Eindruck dieser Rüstungen die Kriegslust der
Gegner möglichst zu dämpfen.
Den Kern der Situation würde man erfassen, wenn man
genau wüßte, aus welchen Gründen die leitenden Staatsmänner in
Frankreich und Rußland eigentlich die Kriegserklärung hinaus-
schieben. Was erwarten sie von der Zukunft? Augenblicklich genügt
wohl das Motiv, daß die russischen Magazingewehre noch nicht
fertig find. Vor dem Jahre 1894 oder 1895 werden wir deshalb
schwerlich den Krieg zu erwarten haben. Wartet man aber auch
außerdem noch auf irgend eine günstige Veränderung in den all-
gemeinen Verhältnissen?
Man nahm früher wohl an, daß der lange erwartete Re-