Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Achter Jahrgang. 1892. (33)

334 Aebersicht der politischen Entwichelung des Jahres 1892. 
schule religiös sein müsse, und daß die Religion selbst heute von 
zersetzenden Mächten angegriffen werde, flocht der Reichskanzler die 
Wendung ein, es handelte sich um den. Kampf von Christentum 
und Atheismus, als ob dieser Gegensatz zugleich die Anhänger und 
Gegner des Volksschulgesetzes bezeichne. Eine ungeheure Empörung 
bemächtigte sich der in dieser Art angegriffenen Parteien, und ob- 
gleich der Reichskanzler sofort am andern Tage noch einmal das 
Wort ergriff, um seine Aeußerung richtig zu stellen und seinen 
den Mittelparteien keineswegs feindlichen Standpunkt genauer dar- 
zulegen, so war es doch unmöglich, die aufgeregten Wogen wieder 
zu beruhigen. Die Ultramontanen und die evangelisch Orthodoxen 
jubelten über die Verkündigung, daß das Zeichen der Epoche der 
Kampf zwischen Christentum und Atheismus sei, und die Liberalen 
aller Schattierungen thaten sich zusammen, um gegen die Unter- 
stellung jener Sentenz zu protestieren und durch eine große Volks- 
bewegung die Schulvorlage selber, obgleich ihr in der Koalition 
zwischen Zentrum und den Konservativen im Abgeordnetenhause 
eine Majorität gesichert war, zu Falle zu bringen. Allenthalben 
regte es sich mächtig. An der Spitze die Magistrate der Städte, 
welche den Einfluß der organisierten Gemeinde auf die Schule nicht 
an gewählte Schulvorstände abgeben wollten, und die Univer- 
sitäten, welche in der Klerikalisierung der Volksschule den Anfang 
kirchlicher Einflüsse auf das gesamte Schulwesen und endlich auf 
die Wissenschaft selber besorgten. Die Opposition ging aus vom 
Liberalismus im weiteren Sinne, der auch die gemäßigt Konserva- 
tiven umfaßt. In ihrer Leidenschaft aber griff sie auch einen Punkt 
der Vorlage an, der gerade auf dem Boden des Liberalismus er- 
wachsen und von dem Minister nicht als Verschärfung, sondern als 
Milderung seiner Prinzipien gedacht war. Die Vorlage gab nämlich 
innerhalb gewisser Grenzen das Privatschulwesen frei, das bisher 
in Preußen von einer Regierungskonzession abhängig ist. Ver- 
geblich machte der Abgeordnete Richter darauf aufmerksam, daß 
man ja gegen sich selber arbeite, daß wenn die Vorlage mit ihren 
klerikal-bureaukratischen Prinzipien Gesetz werden sollte und etwa 
die Verwaltungspraxis einen noch strengeren kirchlichen Charakter 
annehme, gerade die Privatschule die Zuflucht der Liberalen sein
	        
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