Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Achter Jahrgang. 1892. (33)

Nebersicht der politischen Entwichelung des Jahres 1892. 341 
überaus böse Affären ans Licht gezogen (vgl. Preuß. Jahrb. Bd. 69 
S. 847), war aber selber dabei in ebensowenig günstigem Lichte 
erschienen. Ende April veröffentlichte er eine neue Broschüre unter 
dem Titel „Judenflinten“, in der er die große Gewehrfabrik Löwe, 
welche dem Staate einen Teil der neuen Armeebewaffnung geliefert 
hatte, des systematischen Betruges und der Lieferung unbrauchbarer 
Waffen beschuldigte, nicht bloß um des Profites willen, sondern 
auch mit der heimtückischen Absicht, Deutschland den nächsten Krieg 
verlieren zu machen. Die „Alliance israklite“ sollte ihn dazu an- 
gestiftet haben. Obgleich die Broschüre ihre Behauptungen mit den 
Aussagen von Arbeitern und Angestellten der Löweschen Fabrik 
zeugenmäßig zu belegen vorgab, so konnte doch für jeden verstän- 
digen Menschen an der Absurdität der ganzen Anklage kein Zweifel 
sein. Ganz abgesehen von der wahnwitzigen Vorstellung einer Ver- 
schwörung der gesamten Judenschaft gegen das Deutsche Reich, wie 
sollte es denkbar sein, daß ein großes industrielles Etablissement 
um eines kleinen Extragewinnes willen, noch dazu einem Kunden 
gegenüber wie das Kriegsministerium, sein Renomm auf's Spiel 
setzte? Irgendwelche Ungehörigkeiten mochten vorgekommen sein, aber 
eine wirkliche Minderqualität der gelieferten Gewehre erschien nicht 
nur unwahrscheinlich, sondern unmöglich. Aber soviel ruhige Ueber- 
legung besitzt eine vom Parteigeist aufgeregte öffentliche Meinung 
nicht. Die ungeschickte, kommißmäßige Art, wie das Kriegsministe- 
rium, das ja nicht weniger schuldig erschien, als die liefernde Fabrik, 
sich verteidigte, nährte den Verdacht. Im Herbste wurde Ahlwardt, 
der bereits wegen anderweitiger Beleidigung eine Gefängnisstrafe 
verbüßte, auf die Anklagebank gebracht, und das Ergebnis war, 
daß er fast gleichzeitig vom Gericht zu fünf Monaten verurteilt, 
vom Volke in den Reichstag gewählt wurde. Die freisinnige Par- 
tei war außer sich über dieses Ergebnis, in einem Wahlkreis, der 
noch vor kurzem in ihrer Hand gewesen war; kein Zweifel, daß 
selbst viele Wähler, die früher freisinnig gestimmt, diesmal Herrn 
Ahlwardt gewählt hatten. Die konservative Partei nahm daraus 
den Anlaß, sich um so entschiedener zum Antisemitismus zu 
bekennen. 
Eine ähnliche Wirkung wie der Prozeß Ahlwardt hatte noch
	        
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