Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Achter Jahrgang. 1892. (33)

350 Mebersicht der pelitischen Enlwickelung des Jahres 1892. 
staat, durch Neubildung der heutigen Verhältnisse, hinein entwickeln“. 
Damit aber war der innere Gegensatz in der sozialdemokratischen 
Gedankenwelt an seinem wichtigsten Punkte zu Tage gerückt; Lieb- 
knecht vermochte beide Gedankenreihen und Bethätigungsmotive nicht 
mehr zusammenzuhalten; in den Reden vieler Genossen kam ihr 
Gegensatz immer mehr zum Bewußtsein; und in der Abbröckelung 
der „Jungen“ und in der Position Vollmars traten beide Prinzipe 
einzeln, das demokratisch-revolutionäre in jenen, das Evolutions- 
prinzip in diesem in eine sichtbare persönliche Verkörperung. Nur 
mit dem Unterschied, der wieder im Wesen dieser beiden ganz ent- 
gegengesetzten Prinzipien liegt, daß die Jungen den Bruch mit der 
Partei herbeiführten, Vollmar in ihr blieb, um sie jetzt allmählich 
zu seinem Standpunkte herüber zu ziehen. Daß Vollmar innerlich 
in der Partei bleiben kann, hat wohl seinen hauptsächlichsten Grund 
darin, daß er nach wie vor mit Liebknecht das letzte Ziel teilt; nur 
die Wege sind andere, die beide gehen. Liebknecht, der Stürmer im 
grauen Haar, achtet ihrer überhaupt nicht; Vollmar, der moderne 
Mensch der Thatsachen, sieht sie sich an, betritt sie Schritt für 
Schritt. Aber dieser scheinbar nur kleine Unterschied ist zugleich 
ein Unterschied des Prinzips. Und dieser Gegensatz ist auch durch 
die Resolution des diesjährigen Parteitages nicht beseitigt, nur zum 
soundsovieltenmale verschoben worden.“ 
Die Deutschfreisinnigen und Nationalliberalen hatten sich, 
wie wir sahen, unter dem Eindruck der Volksschul-Vorlage einander 
genähert. Aber da die Vorlage endlich fiel, so folgte nichts weiter 
daraus. Die Nationalliberalen blieben, wie man es wohl ausdrücken 
darf, eine mißgestimmte Regierungspartei, die Freisinnigen eine 
Opposition, die doch immer wieder zum Ausdruck brachte, daß sie 
den leitenden Staatsmann an seinem Platz zu erhalten wünsche. 
Gewiß ein überaus merkwürdiges Verhältnis: das Zentrum trotz 
des Fallens, der Freisinn trotz der Einbringung der Volksschul- 
Vorlage bleiben Verehrer des Reichskanzlers und blieben gleichzeitig 
in der Opposition. Ein merkwürdiges und darum doch durchaus 
verständliches Verhältnis, denn auch die Regierung betrachtete wieder 
die Opposition keineswegs als unbedingte Feindschaft. Immer von 
neuem setzte Graf Caprivi auseinander, daß er „das Gute nehmen
	        
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