Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Achter Jahrgang. 1892. (33)

Aebersicht der politischen Entwichelung des Jahres 1892. 351 
werde, wo er es finde“, und daß er es „nicht für richtig halte, 
wenn heutzutage die Regierung eines monarchischen Staats sich aus- 
schließlich auf bestimmte Parteien stützt“ (21. Januar). Als die 
Berliner Stadtverordneten an Stelle des verstorbenen Forckenbeck 
den bisherigen Bürgermeister Zelle, der zur deutschfreisinnigen Par- 
tei gehörte, zum Oberbürgermeister wählten, bestätigte der König 
die Wahl sofort in einer überaus freundlichen Weise; er sei „der 
Ueberzeugung, die Wahl konnte keinen Besseren und Geeignete- 
ren treffen“. Diese Wendung nahmen die kirchlichen Parteien 
nicht wenig übel, da Herr Zelle kein kirchenfreundlicher Mann sei 
und, wenn man sich einen solchen auch als Bürgermeister vielleicht 
gefallen lassen müsse, man darum doch daran festhalten könne, 
daß es an sich andere und besser gualifizierte Leute für den 
Posten gebe. 
Durch die Aufhebung des Welfenfonds und Ausfolgung derwelfen- 
Gelder an den Herzog von Cumberland suchte die Regierung eben= fonds. 
falls eine Besänftigung der Parteigehässigkeit nach allen Seiten zu 
erzielen. 
Die Annäherung zwischen der Regierung und den Freisinnigen Miquels 
ließ nun immer noch einen weiten Zwischenraum zwischen ihnen. Waen 
Als der Finanzminister Miquel sein großes Kommunalsteuerprojekt 
im preußischen Landtag einbrachte, machte die freisinnige Partei 
ihm entschieden Opposition, da sein Plan sowohl zu agrarisch als 
zu fiskalisch sei. So groß aber die Bedeutung dieser Steuerreform 
für das gesamte innere Leben und die Zukunft Preußens ist, so 
trat das Interesse daran doch bald zurück vor der politisch noch 
unendlich viel gewichtigeren Armee-Reform. 
Graf Caprivi wußte wohl, was er that, als er im Frühjahr Armee- 
mit solcher Entschiedenheit für das Volksschulgesetz eintrat. Im #eerm. 
Herbst erschien die große Armee-Vorlage, welche eine Verstärkung 
der Friedenspräsenz um nahezu 100,000 Mann forderte. Obgleich 
damit die Herabsetzung der Dienstzeit für alle Fußtruppen auf zwei 
Jahre verbunden war, so erforderte die Verstärkung doch einen 
jährlichen Mehraufwand von 60 bis 70 Millionen Mark. Die 
jährliche Mehreinstellung von Rekruten soll 60,000 Mann betragen, 
wovon bisher nur 18,000 als Ersatzreservisten eine flüchtige Aus-
	        
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