Aebersicht der pelitischen Eutwickelung des Jahres 1892. 357
Wille Oesterreich-Ungarns ist es ja, der Rußland verbietet, die
Hand auf die Balkanhalbinsel zu legen; freilich der Wille Oester-
reich-Ungarns ist es nicht allein, es ist die Rückendeckung und An-
lehnung, die ihm Deutschland gewährt, die es so stark macht, und
der schwächste Punkt des Staatswesens bleibt unzweifelhaft das
Ungenügende seiner eigenen militärischen Rüstungen aus Sparsam-
keitsrücksichten. Es hat aber noch nie einen Staat in der Welt-
geschichte gegeben, bei dem sich solche falsche Sparsamkeit nicht ein-
mal bitter gerächt hätte. Zur Zeit freilich steht Oesterreich da als
ein trotz aller inneren Unzufriedenheit im Fortschritt und Auf-
blühen begriffener Staat. Die schmerzliche Erscheinung eines fort-
währenden Rückganges des Deutschtums in dem Gemische der Völker
wird hoffentlich seit dem Jahre 1891 ihr Ende erreicht haben. Viel
wird dabei von der geschickten Taktik der Deutschen selber abhängen.
Wenn man den Rückgang aus der geringeren Widerstandsfähigkeit
des deutschen Charakters unter den andern Völkern erklärt, so thut
man damit dem deutschen Charakter unrecht; in früheren Jahr-
hunderten hat er sich anders gezeigt. Die Erklärung liegt vielmehr
darin, daß die slavischen Nationalitäten im Bündnis mit der Kirche
stehen, die Deutschen namentlich durch eine liberale, anti. klerikale
Partei repräsentiert werden. Diejenige Nationalität aber wird
immer die stärkste sein, in der die beiden Antriebe der Rasse und
der Religion ineinander fallen, während diejenige in ihrer Kraft
gebrochen ist, in der diese Urpotenzen gegeneinanderstreben. Dadurch
daß die jungtschechische Partei hussitische Erinnerungen auferstehen
läßt und moderne liberale und radikale Ideen pflegt, wird sie viel-
leicht auch einmal mit der Kirche scharf aneinandergeraten.
Ende 1891 ließ es sich so an, als ob die Regierung sich mit
der deutschen Linken aufs innigste vereinigen würde; eines ihrer
Mitglieder, Graf Kuenburg, trat als Minister ohne Portefeuille
ins Kabinett. Einem Polen Bilinski wurde gleichzeitig der wich-
tige Posten der Direktion der Staatsbahnen übertragen. Mehrere
wichtige Vorlagen, namentlich die Handelsverträge mit Deutschland,
Italien und der Schweiz, gingen in der so erzeugten günstigen
Stimmung ohne Schwierigkeit durch, und die Regierung trat nun
an die größte und wichtigste aller Aufgaben, die endliche Herstel-