Nebersicht der politischen Entwichelung des Jahres 1892. 365
dauert habe. Nicht viel hat gefehlt, daß auch noch dem Jahr 1892
wieder derselbe Stempel hätte aufgedrückt werden können. Zwar
waren schon im Anfang des Jahres einige wesentliche Verände-
rungen im Kabinett vorgegangen, auch der Vorsitz, und damit der
Name hatte gewechselt, aber der Gesamtcharakter war doch derselbe
geblieben, und auch Herr v. Freycinet, wenn auch nicht mehr der
Präsident, so doch als Kriegsminister eines der hervorragendsten
Mitglieder. Die wirkliche Katastrophe trat erst ganz am Schlusse
des Jahres ein, so daß man sagen kann, Frankreich habe seit dem
Sturz Boulangers, also volle drei Jahre lang, eine ziemlich stabile
Regierung gehabt. Und diese Regierung schien durch die Ereignisse,
die wir bereits bei der allgemeinen europäischen Politik behandelt
haben, nämlich durch den Uebertritt des Papstes, und damit eines
großen Teiles der klerikal-monarchischen Partei auf die Seite der
Republik noch sehr bedeutend an Festigkeit gewinnen zu müssen.
In der zweiten Hälfte des Mai löste sich der „Verein des christ-
lichen Frankreich“, der bisher den Sammelpunkt der Agitation gegen
die Republik gebildet hatte, auf. Der parlamentarische Führer der
Ultramontanen, Graf de Mun, trat auf dem Kongreß der katho-
lischen Jugend zu Grenoble mit einer Anzahl von anderen Nota-
bilitäten der Partei zur Republik über. Der Crzbischof Gouthe=
Soulard, Monsignor Hulst, der noch kurz vorher einem Interviewer
gegenüber, betonend, daß die Unfehlbarkeit des Papstes sich auf
Glaubens= und Sittenregeln, nicht auf politische Anweisungen er-
strecke, die neue Wendung abgelehnt hatte, ferner Baron Mackau
schlossen sich an. In der Kammer bildete sich eine konstitutionelle
Gruppe aus ehemaligen Monarchisten unter der neuen Fahne. Auf
der andern Seite begann der Klerus sich noch mehr und direkter
als bisher in die Politik einzumischen. Eine Anzahl von Bischöfen
verteilten Wahlkatechismen und ließen Ansprachen und Predigten
halten, durch welche die Gläubigen aufgefordert wurden, bei den
bevorstehenden Gemeinderatswahlen das Interesse der Kirche und
der Religion wahrzunehmen, also klerikal zu wählen. Wenn die
Kirche einmal republikanisch wird, so wird es um so schwerer sein,
ihr solche politische Beeinflussung zu verbieten oder wenigstens sie
daran zu verhindern. In dieser Zeit, wo man noch nicht mit